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Einspruch!

 

 

 

 

 

Inhalt dieser Seite

 

 

 

Japan

 

 

 

Dänemark

 

 

 

Island

 

 

 

Kinderarbeit

 

 

 

Indonesien

 

 

 

Tibet

 

 

 

Madagaskar 1

 

 

 

Madagaskar 2

 

 

 

Rumänien

 

 

 

Madagaskar 3

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ein Löwe namens Hunger

Nasrin Siege / Barbara Nascimbeni: Wenn der Löwe brüllt

Von Anne Spitzner

 

Wenn der Löwe brüllt, haben die Kinder Hunger. Doch anders als die meisten Kinder hierzulande haben Bilali und Emanuel, die beiden Hauptfiguren dieses Buches, kein Essen, um den Löwen zufriedenzustellen – Emanuel und Bilali sind Straßenkinder in einer namenlosen afrikanischen Stadt. Wenn für sie der Löwe brüllt, müssen sie betteln gehen oder hart arbeiten, und dabei begegnen ihnen nicht nur freundliche Menschen, sondern in der überwiegenden Mehrheit unfreundliche Zeitgenossen und sogar Diebe, die ihnen ihr hart verdientes Geld gleich wieder wegnehmen.

Dass diese Geschichte nicht nur traurig ist, verdankt sie dem unerschütterlichen Optimismus ihrer beiden Protagonisten, die sich weder vom Hunger noch vom Elend unterkriegen lassen, sondern unbeirrt weiter von einem besseren Morgen träumen. Aber den größeren Verdienst an der trotz der traurigen Umstände vorhandenen Fröhlichkeit der Geschichte haben eindeutig die bunten Bilder von Barbara Nascimbeni, auf denen es so viel zu entdecken gibt, dass man schon mal vergessen kann, dass man eigentlich gerade zwei hungrigen Kindern durch die Straßen folgt.

„Wenn der Löwe brüllt“ ist eine schöne Möglichkeit, den hiesigen, mehr oder weniger verwöhnten, im Vergleich mit Bilali und Emanuel jedoch recht glücklichen Kindern klarzumachen, dass es andere auf dieser Welt gibt, denen es nicht so gut geht wie ihnen.

Und trotz dieser wichtigen Botschaft sind Emanuel und Bilali keine kleinen Moralapostel mit erhobenem Zeigefinger, sie sind und bleiben Kinder, die lachen, spielen und herumtollen – Kinder, deren ständiger Begleiter ein Löwe namens Hunger ist.

 

 

Nasrin Siege / Barbara Nascimbeni:

Wenn der Löwe brüllt

Peter Hammer Verlag 2009

32 Seiten, Euro 15,90

ISBN 978-3779502739

 

 

 

 

 

Hoch

 

 

 

 

Große Vielfalt unterschiedlichster Charaktere

Henri Mbarga, Billy Djité: "Warum das Schwein keine Hörner hat und andere Geschichten aus Kamerun"

Von Bettina Meinzinger

 

Immer wieder nimmt der Baobab Verlag seine kleinen Leser mit auf eine Reise in ihnen zumeist fremde Länder.

Diesmal nach Kamerun.

In Kooperation mit dem Museum Rietburg erschienen ist nun eine Sammlung mit kamerunischen Fabeln: Mbintu die Schildkröte ist ganz schön clever und trickst sogar den viel größeren Elefanten und das Nilpferd aus. In der Geschichte „Das mutige Trio“ beweisen ein Gorilla, ein Panther und ein Schimpanse, dass man seine eigenen Begabungen nicht gering zu schätzen braucht. Die Fledermaus wiederum kann sich nicht entscheiden, wohin sie gehört, die Antilope hingegen besticht durch ihre Ehrlichkeit.

Eine große Vielfalt unterschiedlichster Charaktere, wie sie auch bei uns Menschen aufzufinden ist, steckt in diesen Erzählungen.

Lustig illustriert sind die Tiergeschichten von dem aus Senegal stammenden  Billy Djité.

(Ab 6)

 

Henrik Mbarga / Bily Djité:

"Warum das Schwein keine Hörner hat und andere Geschichten aus Kamerun"

Baobab Books 2012

40 Seiten, Euro 15,90

ISBN 978-3905804386

 

 

 

Hoch

 

 

 

 

MADAGASKAR III

 

Mit authentischem Leben gefüllt

„Ich kehre zurück, Dadabé“

von Tordis Schuster

 

Zugegeben: Es ist etwas beschwerlich, anzukommen im Dorf Morakondro in Madagaskar, in dem die Protagonistin dieses Buches lebt. Todisoa, genannt Toddy, ist die älteste Tochter einer fünfköpfigen Familie, den Großvater Dadabé mit eingerechnet. Ihre Welt balanciert zwischen ethnischen Riten, Mythen und Geschichten und der immer präsenten Natur, Bedrohung und Ernährerin in einem, Schutz und Spielort kindlicher Fantasie.

Doch es lohnt sich, dort hinein zu schlüpfen. Hat man sich erst eingelebt, geht man neben Toddy durch den sagenumwobenen Wald zur Schule, hilft der Mutter beim Kochen, liebt Fliegennetze und wünscht sich genauso wie Todisoa, das Riesenrad in der großen Stadt zu sehen.

Kaum in dieser Welt angekommen, zerstört ein Sturm das Haus der Familie und damit Toddys bekanntes Leben. Die Geschichte beginnt, wir müssen mit. Toddys Vater will mit seiner Familie sein Glück in der Stadt versuchen -  gegen den Willen der Mutter, der Kinder, trotz Warnungen der Dorfbewohner. Dass das sicher nicht gut gehen wird, rufen auch wir dem Vater zu. Doch der will nicht hören.

Todisoas Begeisterung für die kleine schönen Dinge in der Stadt steckt an. Die Häuser wirken „so, als würden sie auf- und übereinander klettern“. Doch es folgen Wohnungs- und Arbeitslosigkeit, sozialer Abstieg. Die Kinder betteln und leiden Hunger. Todisoa fragt sich, wer hier in der Stadt das Glück bringt, wo es doch keinen Wald mit den Wichteln „Kalanoro“ gibt, die das normalerweise übernehmen. Wir und Todisoa fühlen uns ausgeliefert und haben Sehnsucht nach dem alten Leben, das sich nun in der Erinnerung verklärt und romantisch anfühlt.

Todisoa wird nun immer mehr ein recht erwachsenes Kind. Sehr reflektiert begreift sie Zusammenhänge, hinterfragt das Verhalten ihrer Eltern und leidet unter ihrer kindlichen Ohnmacht. Sie fragt sich, ob sie eine gute Tochter ist, sie ist wütend auf ihren alleine entscheidenden Vater und hat Angst vor der Zukunft. Und zudem ist sie die Starke, die Verantwortung schwer trägt. Etwa, als die kleinen Geschwister verschwunden sind oder der Vater ins Gefängnis muss.

Das alles kann man nicht ertragen, ohne eine klein bisschen erwachsener zu werden. 

Den Erwachsenen wünscht man das Erwachsenwerden in diesem Buch oft etwas früher, Todisoa dagegen etwas später. Ankommen werden schließlich alle. Denn zuletzt siegt die Sehnsucht, die das ganze Buch durchzieht. Wie Großvater Dadabé gesagt hat.

Dieses Buch vereint die großen Menschheitsthemen: Existenzängste, Fragen nach dem Sinn, Freundschaft, Familienalltag, Spiel und Lernen. Das kennen wir, das zieht uns mit. Man mag Längen auf Grund zu flacher Spannungsbögen kritisieren - dieses Buch möchte etwas anderes, was ihm außerordentlich gut gelingt: Wir spüren Todisoa mit all ihren Wünschen und Ängsten in dieser völlig fremden Welt, da die Autorin sie mit authentischem Leben füllt und uns dabei begleitet.

 

Nasrin Siege

„Ich kehre zurück, Dadabé“

Brandes & Apsel, 2011

160 S., 14,90 Euro

ISBN 978-3860997130

 

Hoch

 

 

 

 

JAPAN

 

Leise, weise Geschichten

Zwei Bilderbücher aus Japan

Von Bettina Meinzinger

 

Wieder einmal hat der Schweizer Baobab Verlag ein sicheres Gespür dafür bewiesen,  außergewöhnliche Kinderbücher aus der weiten Welt, diesmal aus Japan, herauszupicken und zu veröffentlichen.

 

Hoh rim rim, hoh rim rim.

Hasengott Isopo Kamui lebt in vollkommener Freiheit inmitten der blühenden Landschaft Hokkaidos.  Im Sommer labt er sich an saftigem Gras, im Winter stellt die Natur ihm Nüsschen und Beeren zur Verfügung. So verlebt er glücklich Jahr um Jahr. Als wiederum ein neuer Frühling beginnt, beschließt Isopo, einen Ausflug ans wunderschön blaue Meer zu machen.

Hoh rim rim, hoh rim rim.

Schwerelos springt er abermals über Wiesen und Felder, am Wasser angekommen lauscht er dessen betörenden Klängen.

Dabuhn, dabuhn, tsah, schorokoroh.

Aber bald merkt er, wie seine Sehkraft nachlässt und er Raben für Menschen und ans Land gespültes Seegras für einen Walfisch hält.

Isopo Kamui seufzt.

Er muss sich eingestehen, dass für ihn die Zeit gekommen ist, nach Hause zurückzukehren. Seine Jugendtage sind vorbei, doch er entdeckt, dass das Alter seine eigenen Vorzüge und Freuden mit sich bringt.

Der ruhige, poetische Erzählton dieser leisen und weisen Geschichte und die dazugehörigen Illustrationen, traditionell japanische Holzschnitte von Tejima Keizaburo, lehren, die Schönheit der Dinge wahrzunehmen und zu begreifen. Sie zeigt aber auch, wie wertvoll es ist, füreinander da zu sein, und dass jedes Alter, jung und alt, seine eigenen Qualitäten, Entbehrungen als auch neue Vergnügen, mit sich bringt.

Hoh rim rim, hoh rim rim.

(Ab 5)

 

Tejima Keizaburo / Shitaku Yae:

„Der weise Hase Isopo. Ein Bilderbuch aus Japan“

Baobab Books 2011

36 Seiten, Euro 16,50

ISBN 978-3905804331

 

"Der Mond zu Gast", ein Buch von Ando Mikie, eignet sich hervorragend dazu, es jemandem vorzulesen , den man sehr lieb hat. Oder es sich vorlesen zu lassen.

In „Der Mond zu Gast“ geht es um keine geringeren Themen als Freundschaft, Einsamkeit, Freiheit, Liebe und Vergänglichkeit. Und diese sind mit einer besonders großen Portion Liebreiz und Klugheit in sieben originelle und erfrischende Geschichten verpackt. Mal irrsinnig komisch, mal traurig. Eines sind sie bestimmt nicht: vorhersehbar. Außergewöhnliches versprechen allein die illustren Protagonisten wie die nach Freiheit und Unabhängigkeit strebende Kaulquappe Hä, die einen Freund in dem furchteinflößenden Libellenjungen findet. Oder die Holzbiene, die vor Lachen tot umfällt. Oder ein von innen nach außen gestülpter Schlangenvater, der die Vergangenheit nicht loslassen kann. Oder Hoitschi, der Hirschbock, der am Sinn des Lebens verzweifelt und sich daraufhin einen Stuhl ins Geweih und den eigenen Vater als Kleidungsstück umhängt.

Die Illustratorin Shimowada Sachiyo ergänzt diese Geschichten um charmante Zeichnungen.

 „Der Mond zu Gast“ ist bisher das erste Buch der Autorin Ando Mikie, das  ins Deutsche übersetzt wurde. Aber hoffentlich nicht das letzte!

(Ab 8)

 

Mikie Ando / Sachiyo Shimowada:

"Der Mond zu Gast: 7 ungewöhnliche Geschichten aus Japan über das Leben und das Glück"

Baobab Books 2011

26 Seiten, Euro 16,50

ISBN 978-3905804348

 

Hoch

 

 

DÄNEMARK

 

Von Künstlerleben und Massenware

Zur dänischen Kinderliteratur der Gegenwart

 

(librikon) Dänemark ist eine schwierige Heimat. Da gab es eine Zeit, da schwebte der Geist von Christiania, vom freien Hippie-Leben von Kopenhagen aus durch Europa und zog alle an, die leben wollten, wie es ihnen gefiel, und das auch noch friedvoll. Davon ist nichts mehr übrig, und das ganz besonders in Dänemark. Das, was heute von außen als ein kleines Ferienland mit Meeren und mehr nicht wahrgenommen wird, ist heute ein Bollwerk der Reaktion. Ausländer sind politisch nicht gern gesehen, viele haben das Land verlassen, der Arbeitsmarkt wird um den Preis des totalen Abhängens der unteren Schichten am Leben erhalten, alle Dänen von Horizont haben sich, man weiß nicht, wohin, zurückgezogen, und das Straßenbild in der Provinz, also in fast dem ganzen Land, ist von Geistlosigkeit durchweht. Künstler sollen etwas Nützliches machen und Kunsterzieher im Schuldienst werden, zur Not zwangsweise über das Drehen an der Sozialhilfe, solche Dinge dürfen dänische Politiker in der Öffentlichkeit ungeschoren sagen.

Das ist die Stimmung, in der heute ein Teil der dänischen Kinderliteratur – es ist der ernsthaftere Teil- entsteht. Dänische Kinderbuchautoren haben etwas mit Politik zu tun: In den sechziger Jahren wurde ein Gesetz erlassen, die Bibliotheken des Landes hätten dänische Kinderbücher anzuschaffen. Ein kleines Land, eine kleine Sprache – Förderung kann sinnvoll sein. Ende der siebziger Jahre erreichten die publizierten Titel die Tausend. Zwölf „Silas“-Bücher waren dabei, Cecil Bodker brachte damit die Serie ins dänische Kinderliteraturleben. In den siebziger Jahren endete die Förderung, das Geld war nicht mehr da. Bei der hohen Zahl an Büchern blieb es. Namen waren bekannt geworden, Bücher in andere Sprachen übersetzt und man hatte sich, das vor allem, emanzipiert von Vorgaben für Kinderbücher. Ganz vorne Kim Fupz Aakeson, der die Kinderliteratur von gesellschaftspolitisch-pädagogischer Vereinnahmung befreit hat. Hohe Qualität stand, nur logisch, neben dicken historischen Kinderschmonzetten, Öko-Tribunalromanen und, mit der Tendenz nach oben, Science-Fiction.

Wer noch immer von Vivi Bachs wundervollem „Wir Kinder aus Kopenhagen“ träumte und nie mehr etwas Gleichartiges fand, der konnte sich immerhin am dänischen Bilderbuch erfreuen – allein an Thomas Windings „Kleiner Bär“-Bücher. In seinen deutschen Ausgaben hatte er, der hintergründig und zum Nachsinnen ist, Pech mit den Mainstream-Illustratoren  Könnecke und Erlbruch, bei denen die Verlage in den neunziger Jahren wohl dachten, sie machten die Bücher verkäuflich. Wer indes die Hintergründigkeit der Texte liebt, kann sich schwerlich mit oberflächlichen Illustrationen anfreunden.  

Thomas Winding, der 2008 verstorben ist, ragte auch mit seinen Prosawerken heraus. Seine Bücher tragen die Züge von Dichtertum, von Künstlerleben, und er ist einer der wenigen, die auch in Übersetzungen eine Gesamtausgabe verdient hätten. Stattdessen muss man seinen auf deutsch erschienenen Büchern antiquarisch hinterherspüren.

National wie international ist es Bjarne Reuter, der, ohne Unterlass auch Kinderbücher schreibend, ein Auflagenkönig ist; mit wie viel Überbleibseln an Schriftstellerischem wir es in seinen Büchern zu tun haben, darüber ließe sich streiten. Die dänische Kinderliteratur steht nicht allein in der Welt, sie ist nicht einzigartig; vom Inhalt nicht und nicht von den Marktgesetzen her. Geschrieben und verkauft wird, was den Geschmack der vielen trifft. Geschrieben und nicht der Menge Zugängliches, bleibt verborgen; heute, da auch in Dänemark nur noch als Kultur gefeiert wird, was viele mögen, mehr denn je.

 

Hoch

 

 

 

ISLAND

 

Was isländische Jugendliche lesen

Kinderbücher aus Island finden selten den Weg zur deutschen Übersetzung –trotz ihrer hohen Qualität

Von Brigitte Bjarnason, Hafnarfjödur

 

„Neue Bücher sind immer sehr beliebt” lautet die Antwort isländischer Bibliothekare, wenn sie nach den attraktivsten Büchern in der Kinderabteilung gefragt werden. Fantasy und Horror stehen dabei ganz oben auf der Wunschliste der jungen Leser. Die Kurzgeschichtensammlung „Draugurinn sem hló“ („Das lachende Gespenst“) mit 15 gruseligen Geschichten bekannter skandinavischer Autoren sowie die Fantasyromane  „Die Chroniken von Narnia“ und „Harry Potter“ stehen meist nur kurz unausgeliehen in den Regalen der Büchereien. Großen Anteil an dem Erfolg der Fantasybücher hatten mit Sicherheit die gleichnamigen Kinofilme, die im Winter die Kinosäle auf Island füllten. Auffällig ist, dass zwei ebenfalls sehr beliebte Bücher in keine der beiden Kategorien passen: Das Buch „Strákarnir með strípurnar“ („Die Jungen mit Strähnen“) und „ Kossar og ólifur“ („Küsse und Oliven“) erzählen von realen Lebenserfahrungen isländischer Jugendlicher.

 

 „Strákarnir með strípurnar“ – „Die Jungen mit Strähnen”

Ein Buch von Ingibjörg Reynisdóttir und Lovísa Thórdardóttir

 

Gabriel besucht die 10. Klasse. Er hat viele Freunde. Auch die Mädchen mögen ihn und erzählen ihm gern von ihrem Liebeskummer. Eines Tages bestätigt sich, was er schon lange geahnt hat. Auf einer Party erfahren es auch seine Freunde. Gabriel ist homosexuell. Schlagartig ändert sich das Verhalten der Freunde ihm gegenüber.

Die Autorin und Schauspielerin Ingibjörg Reynisdóttir hat zusammen mit ihrer 14jährigen Tochter Lovísa Thórdardóttir in dieser Ich-Erzählung die Gefühlswelt des knapp 16jährigen Gabriel beschrieben. Die Kulisse entspricht der Welt der isländischen Jugendlichen  in der heutigen Zeit. Probleme mit Lehrern und Eltern werden ebenso angesprochen wie das leichte Abrutschen in die Welt der Drogen und der Vergnügungssucht. Freunde sind wichtig im Leben von Gabriel. Doch wer sind seine wahren Freunde?

Das Buch ist auch für Eltern interessant, weil Jugendliche sich gerne abkapseln und Erwachsenen gegenüber wenig von ihrem Seelenleben preisgeben. Das erfahrungsreiche Kapitel aus dem Leben Gabriels ist schnell gelesen, da es den Leser durchgehend fesselt. Das Buch hinterlässt einen nachhaltigen Eindruck und weckt Verständnis für die Probleme der jüngeren Generation in unser Gesellschaft.

 

 „Kossar og Ólífur“ – „Küsse und Oliven“

 Ein Buch von Jónína Leósdóttir

 

Die 16jährige Anna meint, küssen ist wie Oliven essen. Man tut so, als ob sie schmecken, weil niemand zugeben mag, wie eklig sie doch in Wirklichkeit sind. Anna macht ihre ersten Liebeserfahrungen. Sie hängt sehr an ihrem achtzehnjährigen Freund Stjáni, doch erst als sie während eines Sommeraufenthaltes in Südengland ihre Freundin Linda küsst, wird ihr klar, dass Küsse auch anders als Oliven schmecken können.

Das Buch „Küsse und Oliven“ könnte die Mädchenausgabe von dem Buch „Jungen mit Strähnen“ sein. Schauplatz der Geschichte ist Brighton, wo Anna den Sommer über bei der Cousine ihres Vaters in einem Gästehaus arbeitet. Sie trifft ihre Brieffreundin Linda, die seit der Scheidung ihrer wohlhabenden Eltern an Magersucht leidet. Ihre isländische Freundin Kata besucht sie und verliebt sich in einen indischen Jungen, der ein von seinen Eltern auserwähltes indisches Mädchen heiraten soll. Für Anna, die in einem Dorf in Island aufgewachsen ist, ist Brighton ein Ort voller Gegensätze. Mit einem reichen Schatz an neuen Erfahrungen kehrt sie am Ende des Sommers nach Island zurück.

Gleichgeschlechtliche Liebe und Magersucht sind keine Tabuthemen mehr und gehören ohne Zweifel zu der Lebenswelt Jugendlicher und damit in die heutige Jugendliteratur. In diesen beiden Jugendbüchern wird auf behutsame Weise darauf eingegangen.

Island – die Büchernation

Es wird behauptet, dass jeder zehnte Isländer irgendwann mal etwas veröffentlicht: ein Buch, eine Kurzgeschichte, ein Gedicht. Jedes Jahr zu Weihnachten erscheint eine wahre Flut von Büchern auf dem Markt. Vielleicht liegt es an den langen dunklen Wintern, dass die Isländer so bücherbegeistert sind.

Isländische Romanautoren, wie z.B. Arnaldur Indridason, Einar Már Gudmundsson oder Steinunn Sigurdardóttir sind auch in Deutschland bekannt. Neu ist der Erfolg isländischer Kriminalromane. Auf der rund 300.000 Einwohner zählenden Insel im Nordatlantik ist die Kriminalität gering. Dennoch scheint das rauhe Klima und die unberührte karge Landschaft die Fantasie der Autoren anzuregen und die Leser in ihren Bann zu ziehen.

Leider bewegt sich in dieser Hinsicht bei der Kinderliteraturszene wenig. Jedes Jahr erscheinen zahlreiche gute Kinderbücher in isländischer Sprache. Doch das Geschäft mit der ausländischen Vermarktung scheint sich nicht zu lohnen.

Das ist schade, denn die deutsche Kinderbuchwelt könnte von isländischer Kinderliteratur profitieren, sie bereichern und zu mehr Buntheit verhelfen. Isländische Kinderbuchautoren sind talentiert und literarisch versiert. Aber auch neue junge Autoren überraschen jedes Jahr mit  unterhaltsamen Büchern. Insbesondere die Jugendbuchszene hebt sich da in diesem Jahr hervor.

 

Hoch

 

 

 

 

KINDERARBEIT

 

Die Dimensionen der Kinderarbeit

 

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass 317 Millionen Kinder im Alter von fünf bis 17 Jahren mindestens eine Stunde am Tag arbeiten. Sie gelten damit als erwerbstätig. In dieser Zahl enthalten sind 218 Millionen Jungen und Mädchen, die täglich mehrere Stunden arbeiten müssen. Sie gelten per Definition der ILO als Kinderarbeiter. Unter ihnen sind 126 Millionen Mädchen und Jungen, die ausgebeutet werden oder unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten. Für die Altersgruppe fünf bis 14 Jahre weist die ILO folgende Zahlen aus: 191 Millionen erwerbstätige Kinder, 166 Millionen Kinderarbeiter und 74 Millionen Kinder in gefährlicher Arbeit. Die meisten arbeitenden Kinder sind im informellen Sektor tätig, also dort, wo die Arbeit selbstorganisiert ist und weder Verträge noch Sozialleistungen gelten.

 

Nicht jede Arbeit von Kindern ist Ausbeutung. Nicht jede Form der Kinderarbeit muss bekämpft werden. Ohne Kinderarbeit könnten viele Familien nicht überleben. In manchen Regionen der Welt ist die Mitarbeit von Kindern Teil des Erziehungsprozesses. Allerdings dürfen diese Formen der  Arbeit nicht in Ausbeutung ausarten. Eine international anerkannte Defini­tion von ausbeuterischer Kinderarbeit liegt seit 1999 mit der ILO-Konven­tion 182 gegen die schlimmsten Formen der Kinderarbeit vor.

 

Ausbeuterische Kinderarbeit ist laut ILO-Konvention 182:

 

• Sklaverei und Schuldknechtschaft und alle Formen der Zwangsarbeit

• Arbeit von Kindern unter 13 Jahren

• Kinderprostitution und -pornografie

• der Einsatz von Kindern als Soldaten

• illegale Tätigkeiten, wie zum Beispiel Drogenschmuggel

• Arbeit, die die Gesundheit, die Sicherheit oder die Sittlichkeit gefährdet, also zum Beispiel Arbeit in Steinbrüchen, das Tragen schwerer Lasten oder sehr lange Arbeitszeiten und Nachtarbeit.

 

Quelle: Terre des hommes

 

Hoch

 

 

INDONESIEN

 

Stundenplan der Selbstbehauptung

Von Albert Recknagel

 

Eine Schule inmitten des indonesischen Urwaldes. Ein Stamm, der seine Kinder lernen lässt, damit sie nicht ausgenutzt werden. Und ein Unterricht, der dem Gespür für den richtigen Zeitpunkt folgt: Albert Recknagel hat die »Orang Rimba« besucht und dabei die Faszination der Andersartigkeit erfahren.

 

Das erste Zusammentreffen mit den Orang Rimba ist enttäuschend: Statt Dschungelmenschen – dies ist die Bedeutung von Orang Rimba – erwarten uns im letzten Dorf vor dem Urwald vier Jugendliche in schwarzen T-Shirts auf ihren Motorrädern. Glücklicherweise hat es in der Nacht nicht geregnet, so dass der 15 Kilometer lange Pfad in den Wald für Motorräder passierbar ist. Sonst hätten wir laufen müssen.

Wir sind tags zuvor in Indonesiens Hauptstadt Djakarta in den Flieger nach Jambi gestiegen, von dort mit dem Bus sechs Stunden bis Bangko gefahren und haben dort übernachtet, um morgens früh mit dem Buschtaxi bis hierhin gebracht zu werden. Unterwegs haben wir Reis, Gemüse und Trockenfisch eingekauft. Zusammen mit meiner indonesischen Kollegin Sri Eni und einer Vertreterin der Organisation Sokola, die hierfür verantwortlich zeichnet, will ich das von terre des hommes unterstützte Projekt einer Dschungelschule besuchen.

Auf dem Soziussitz einer 125-er Yamaha bringt mich der 14-jährige Penguar immer tiefer in sein Territorium, den 240.000 Hektar umfassenden Nationalpark Bukit Duabelas, die Heimat der etwa 2500 Orang Rimba. Bis heute sind Penguars Großeltern „Steinzeitmenschen“, Waldnomaden, die von der Jagd auf Wild und dem Sammeln wilder Bananen, von Nüssen, Sprösslingen und Honig leben. Inzwischen benutzen sie ab und zu – obwohl ungern – die Hacke, um etwas Reis, Maniok oder Mais anzupflanzen.

Nachdem wir etwa die Hälfte des Weges zurückgelegt haben, treffen wir im Wald unvermutet auf eine kleine Gruppe. Diese Orang Rimba sind am Vortag losgezogen, um wilden Honig zu sammeln, wie sie sagen. Meine Ansprechpartnerin Butet erklärt mir mit einem Augenzwinkern, dass dies die Umschreibung dafür ist, dass sie mal wieder losziehen mussten. Allzu lange halten sie es in ihren Hütten nicht aus. Sesshaft wird man nicht von heute auf morgen. Nach ein paar Tagen des Umherstreifens im Busch kommen sie dann zurück zu Feld und Hütte. Im Regenwald ist Kleidung eher störend und überflüssig. Diese Orang Rimba verzichten deshalb weitgehend auf sie.

Eine halbe Stunde später erreichen wir Sokola Rimba, die Dschungelschule, einen vier mal fünf Meter großen Pfahlbau auf einer kleinen Lichtung inmitten des Waldes. Eine Ansiedlung ist nicht zu sehen, aber ein gutes Dutzend Jungen und der Demungun, das Oberhaupt des Stammes, empfangen uns. Butet, meine Kollegin von Sokol, übersetzt aus der altmalayischen Sprache der Orang Rimba ins Englische. Für viele Begriffe aus dem Ökosystem Regenwald und der spirituell-religiösen Welt der Orang Rimba gibt es kein passendes englisches Wort. Aber es reicht aus, um sich angeregt zu unterhalten. Oft sind Gesten sowieso wichtiger als Worte. Auf meinen Arbeitsreisen in fremde Länder habe ich immer ein kleines Fotoalbum mit privaten Bildern dabei. Die Fotos zeigen meine Familie, unser Heuerhaus, die Nachbarschaft, einige wichtige Feste und vieles mehr. Das schlägt schnell Brücken. „Was esst ihr? Gehen deine Söhne auch auf die Jagd?“, lauten jetzt die Fragen der Orang Rimba. Auf einem der Bilder sieht man unsere Kinder beim Schneemannbauen. „Kann der weiße Mann laufen?“ Andersartigkeit fasziniert.

Inzwischen ist es später Vormittag. Einige der Jungen und Lehrer beginnen das Essen vorzubereiten. Der elfjährige Mijak fragt mich, ob ich ihn begleiten will. Er möchte im Urwald aufgestellte Fallen überprüfen. „Vielleicht gibt es ja heute Abend Wildschwein!“, ruft uns Butet hinterher. Mit der Machete schlägt Mijak einen Weg durch das Gestrüpp. Wann immer möglich, wechseln wir in Bachläufe, das ist bequemer. Leider sind alle Fallen leer. Mijak kennt jeden Busch, jeden Baum, weiß genau, wessen Nüsse gut schmecken oder wessen Rinde das Fieber senkt. Gerade als ich denke, dass es im Wald doch ziemlich ruhig ist, brüllt eine Horde Affen los. „Jetzt ist Mittag“, kommentiert Mijak. Als ich ihn fragend angucke, erklärt er, dass die Gibbons immer um diese Zeit brüllen. Eine Uhr braucht man hier nicht, schießt es mir durch den Kopf. Mittag ist, wenn der Magen knurrt und die Gibbons schreien.

Nach dem Essen – zubereitet von unserem Einkauf – frage ich vorsichtig an, wann denn eigentlich mal Schule sei? „Gleich“, lautet die Antwort. Erst einmal aber wird abgewaschen und die Feuerstelle geordnet. Einige der Kinder beginnen mit einem aus Stoffresten und Gummibändern geformten Ball zu spielen. Die Älteren – ab 14 gehört man hier zur Erwachsenenwelt – hocken auf der Erde, palavern, rauchen. Dann, ohne dass ich einen Gong oder eine laute Aufforderung der Lehrer gehört hätte, steigen die Jungen nacheinander die Leiter zur Schule hoch. Der Unterricht beginnt.

Der Unterricht? Es gibt keine Schulbänke, keine Tafel, keine Schulbücher, keinen Stundenplan – und eigentlich auch keine Lehrer. Butet erklärt mir, das ihre Organisation den Kindern Grundtechniken wie Lesen, Rechnen und Schreiben beibringen will. „Ohne diese Kenntnisse sind sie im Kampf für ihren Wald und ihre Menschenrechte verloren. Deshalb lässt uns der Stamm unterrichten“, sagt sie. „Die Orang Rimba wollen nicht von der Dampfwalze der Modernisierung überrollt werden. Sie wollen keine Bücher, in denen ihren Kindern Hochhäuser, Autos, schicke Menschen und die Konsumbedürfnisse in den Städten gezeigt werden. Dies würde nur Landflucht und anschließend Verelendung in den Slums bedeuten. Es wäre das Ende der Orang-Rimba-Kultur.“

Aufgrund dieser Ängste lehnen andere Stämme der Orang Rimba die Dschungelschule bislang ab. Schule wird als Einfallstor der städtischen Zivilisation gesehen. Im Wald ist der Wald die Schule. Andererseits verlassen mehr und mehr Orang Rimba den Wald, um auf den Markt zu gehen, Produkte des Waldes zu verkaufen und Industrieprodukte einzuhandeln. Wollen sie in dieser neuen, fremden Welt nicht ausgenutzt und unterdrückt werden, müssen sie wichtige Techniken wie Lesen und Rechnen erlernen.

Um die drei Lehrer der Sokola Rimba scharen sich mittlerweile Kleingruppen von jeweils vier bis sechs Jungen, alle um die zehn, zwölf Jahre alt. Alle hocken oder liegen auf dem Boden. Die einen schreiben Buchstaben, die anderen malen oder rechnen. Alle sind engagiert dabei. Ich habe überhaupt noch nie eine Schule besucht, in welcher die Kinder so entspannt, eifrig, sorgfältig lernen und mitmachen wie hier im Urwald. Vielleicht ist es das völlige Fehlen von Zwang und Notendruck? Pemobar, der Stammeschef, erklärt mir später, dass seine Gruppe dem Schulexperiment überhaupt nur zugestimmt hat, weil Sokola bereit ist, die Adat, die Traditionen der Orang Rimba, zu respektieren und keinerlei Zwang auszuüben. „Das wollen wir nicht. Wir sind freie Menschen“, sagt Pemobar. Und stellt kategorisch fest: „Wenn die Lehrer Druck machen, werfen wir sie wieder aus dem Wald raus.“

Eines möchte ich allerdings von ihm genauer wissen: Warum gehen nur Jungen zur Schule – und die Mädchen nicht? Eine Beobachtung, die mich durchaus verblüfft. Pemobar erklärt mir, dass bei den Orang Rimba der Mann für Außenbeziehungen und alles Neue zuständig ist. Er ist verpflichtet, die Frauen zu schützen und vor möglicherweise schlechten Einflüssen zu bewahren. „Bevor wir etwas Neues in unsere Gemeinschaft integrieren, testen wir es. Das gilt für Motorräder ebenso wie für Süßigkeiten, Alkohol oder die Schule“, erklärt das Stammesoberhaupt. „Erst wenn wir überzeugt sind, dass das Neue gut ist, kommt es auch unseren Töchtern und Frauen zugute.“ Diese Tradition wird vom terre-des-hommes-Projektpartner Sokola und den Lehrern der Dschungelschule akzeptiert.

Die Lehrer der Sokola Rimba sind zwei Studentinnen und ein Student der Universität von Djakarta. Auf das Projekt aufmerksam geworden sind sie über die Internetseite von Sokola und Aushänge in der Uni. Für sie ist es eine Art Praktikum oder soziales Jahr. Drei Wochen unterrichten sie, dann gehen sie eine Woche – „um mal wieder zu duschen und zu gucken, ob die Welt noch existiert“ – in die nächste Stadt und kommen wieder für den nächsten Turnus.

Butet möchte für die Dschungelschule keine ausgebildeten Lehrer, denn es geht darum, den Kindern das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen – nicht darum, sie umzuerziehen. „Ausgebildete Lehrer sind oft wie Missionare. Sie verachten die Tradition und predigen den Fortschritt. So, wie man es ihnen auf der Universität beibringt“, legt Butet dar. Nach Auskunft von Indit, die vor drei Jahren als Studentin hierhin kam und blieb, lernen die Jungen der Dschungelschule doppelt so schnell wie in den öffentlichen Schulen. In der Regel sind drei Jahre ausreichend. Die Lernbegierde ist groß, da der Unterricht sehr lebenspraktisch, zielgruppenorientiert und absolut freiwillig ist. Wenn abends um acht die Öllampe ausgemacht wird, lösen die letzten Schüler immer noch Aufgaben im Heft. Wenn sie morgens um sechs vom Gruß der Gibbons geweckt werden und aus ihren kleinen Schlafsäcken kriechen, gilt der erste Blick wieder dem Heft. Sie sind stolz, sie haben Spaß – und das Lernen bringt ihnen etwas: Im Gespräch mit dem 19-jährigen Lahman, der vor fünf Jahren zur ersten Lerngruppe gehörte, erfahre ich, dass er im vergangenen Jahr seine Leute anführte, als sie gegen den Bau einer Straße durch ihren Wald protestierten. „Ich war der Einzige, der ihre Sprache konnte, und ich hatte keine Angst mehr vor den Malaien“, erklärt er mir. Lahman und die Seinen hatten Erfolg. Das Gesetz war auf ihrer Seite, der Gouverneur nicht korrupt, und so mussten die Bauarbeiten abgebrochen werden. Ohne die Dschungelschule wäre diese Geschichte wahrscheinlich anders ausgegangen.

Der Abschied nach zwei Tagen ist trotz der großen kulturellen Unterschiede und Sprachprobleme herzlicher als mit manchem Landsmann. Die Abwesenheit moderner Standards wie Elektrizität, fließendem Wasser, Medien oder schnellen Verbindungen stößt uns unweigerlich wieder auf das Wesentliche: die Gemeinschaft, das Gespräch, das Teilen. Die gewohnte Alltagshektik verschwindet. Körper und Geist schalten vom vierten in den ersten Gang. Obwohl es eigentlich ja nicht sein kann, hatte ich die ganze Zeit das Gefühl: Hier organisiert sich alles von alleine.

Das erleichtert ungemein. Und lässt den Blick auf das Menschliche zu.

 

Zum Autor:

Albert Recknagel ist Referent Bildung bei terre des hommes -Hilfe für Kinder in Not. Spenden sind dringend nötig, auch für aktuelle Notlagen. Näheres unter WorldWideWeb. tdh.de

 

Hoch

 

TIBET

 

Wider die Hoffnungslosigkeit

Von Klemens Ludwig

 

Perspektiven für die Kinder Tibets

Bis zum Frühling des vergangenen Jahres war die Welt der zwölfjährigen Sandrol Thonden noch in Ordnung. Mit ihren zwei Geschwistern, der achtjährigen Pema und dem fünfjährigen Jigme, führte sie das Leben der Halbnomaden im Osten Tibets. Sie mochte dieses Leben, auch wenn es für Kinder außerhalb Tibets hart erscheinen mag. Sobald der Schnee im Frühling geschmolzen war, zog die Familie mit ihren Hochlandrindern, den Yaks und Dris, auf die Weideplätze, die oberhalb der Baumgrenze liegen. Die Tiere boten ihnen alles, was sie zum Leben brauchten, Milch, Butter, Käse sowie Felle, die sie zu Kleidung, Schuhen und Zelten verarbeiteten. Sogar der Dung wurde verwertet. Das war Sandrols und Pemas Aufgabe, auf die sie ziemlich stolz waren. Sie mussten den Dung aufsammeln, zu Fladen formen und zum Trocken auslegen. Das ergibt gutes Brennmaterial, denn Holz ist rar und teuer. Auch beim Melken durfte Sandrol ihrer Mutter schon helfen. So wuchs sie immer mehr in die Aufgaben des Nomadenlebens hinein. In guten Zeiten erwirtschaftete die Familie auch Überschüsse. Die tauschte sie gegen Tsampa, das geröstete Gerstenmehl und andere Produkte ein, die sie nicht selbst herstellen konnte. Bisweilen schlugen die Thondens auch mit anderen Familien ein gemeinsames Lager auf.

Im Herbst endete die Zeit auf der Hochebene. Nach den großen Schauern des Monsuns wurde es Zeit, in die Täler hinabzusteigen. Im Osten Tibets sorgt der Monsun für heftige Niederschläge, während die Gipfel des Himalaya die Regenwolken von Zentraltibet fernhalten. Auf den Monsun folgt bald der Winter. Die Temperaturen fallen auf Minus 40 Grad, der Schnee liegt meterhoch und Stürme verwandeln das Land in eine Eiswüste. Selbst zähe Nomaden können unter solchen Bedingungen nicht leben.

Sandrol mochte die Zeit in den Dörfern nicht besonders. Eigentlich sollte sie die Schule besuchen, doch daran hatte sie kein Interesse. Ihre Eltern drängten sie auch nicht, denn dort wurde nur chinesisch unterrichtet. Diese Sprache konnten und wollten sie nicht sprechen. Häufig reichten ihre Vorräte nicht, und so musste sich der Vater nach bezahlter Arbeit umschauen. Das war nicht immer einfach. Fand er keine Arbeit, war er gereizt und schlecht gelaunt. Dann gingen ihm die Kinder besser aus dem Weg. Die gesamte Familie vermisste das freie Leben auf der Hochebene. Wie sehr sehnten sie sich jedes Jahr nach dem Frühling, wenn sie wieder zum Nomadendasein zurückkehren konnten.

In diesem Jahr jedoch kam alles ganz anders. Kurz bevor sie sich mit ihren Tieren auf den Weg machen wollten, erkrankte der Vater schwer und starb innerhalb kurzer Zeit. Noch vor seinem Tod erkrankte auch die Mutter und verstarb eine Woche später. Damit hatten Sandrol, Pema und Jigme alles verloren.

Ihr Schicksal ist extrem, doch nicht einmal selten. Seitdem China über Tibet herrscht, wurde die alte Nomadengemeinschaft zerstört. Sie hat Waisenkindern eine Zuflucht geboten, denn es war selbstverständlich, dass sich andere ihrer annahmen. Zudem ist die medizinische Versorgung heute so schlecht, dass schon geringfügige Erkrankungen zum Tode führen können. Die Plätze in einem der wenigen Krankenhäuser sind zumeist chinesischen Beamten und Soldaten vorbehalten.

Es gibt jedoch Tibeter im Exil, die sich mit den Missständen nicht abfinden. Etwa 120.000 Menschen sind im Laufe der Zeit vor der chinesischen Armee geflohen. Manche haben es in ihrer neuen Heimat zu Wohlstand und Ansehen gebracht. Sie sehen dies als Verpflichtung, die Daheimgebliebenen zu unterstützen.  

Einer der engagierten Tibeter im Exil ist Dr. med. Palden Tawo. Er lebt in Deutschland. Berichte aus seiner Heimatprovinz Tawo in Ost-Tibet haben ihn aufgerüttelt: "Die tibetische Kultur und Lebensweise ist in unsere Heimat immer mehr gefährdet. Wenn wir noch etwas retten wollen, müssen wir dort helfen", so seine Überzeugung.

So rief er Ende 1995 das Tadra-Projekt ins Leben. Es wird von einem Förderverein in Deutschland unterstützt. In Schimda, einem günstig gelegenen Ort zwischen Tawo und Drango hat der Förderverein Tadra ein Grundstück erworben, auf dem ein Waisenhaus, eine Schule und ein Krankenhaus errichtet werden. Die Bevölkerung hat die Idee begeistert aufgenommen, wie Palden Tawo berichtet: "Sowohl die Menschen wie auch die örtlichen Behörden waren sofort bereit uns zu unterstützen, als sie von den Plänen hörten. Sie haben uns das Grundstück zur Verfügung gestellt, liefern unentgeltlich Strom, Wasser und Holz und helfen beim Aufbau. Auf eine solche Perspektive haben sie lange gewartet".

Als der Arzt vom Schicksal der drei Thonden-Kinder erfuhr, hat er auch ihnen sofort einen Platz in dem Waisenhaus zur Verfügung gestellt. Das ersetzt zwar nicht die Familien und das Nomadendasein, gibt ihnen jedoch eine Zukunft nach dem schweren Schicksalsschlag.

 

Von der Universität zur Dorfschule

Ähnliche Projekte gibt es auch in anderen Teilen Tibets, etwa in Namling. Das abgelegene Gebiet nördlich der Stadt Shigatse im Westen ist für chinesische Siedler sehr unattraktiv. Es ist das Armenhaus der Region. Die meisten der etwa 50.000 Menschen leben von der kargen Landwirtschaft, doch gibt es auch noch einige Halbnomanden. Die Häuser mit den offenen Fenstern wirken bescheiden. Elektrizität gibt es nur an einigen günstig gelegenen Orten. Die Kinder dagegen strahlen bei aller Armut eine Fröhlichkeit und Herzlichkeit aus, die von innen kommt und echt ist. Die Beziehungen zwischen den Menschen sind intakter als anderswo, denn China ist weiter entfernt. Dadurch hat sich im Alltag nicht so viel verändert. Fast alle Kinder haben noch eine Familie. Allerdings fehlt das Geld für die Schulausbildung. Damit haben sie im neuen Tibet kaum eine Chance. 

Namling ist auch die Heimat von Tashi Tsering, einem der wenigen Tibeter, der ein Studium abschließen konnte. Schon seit Jahrzehnten ist er ein Wanderer zwischen den Welten der Exilgemeinden und der Daheimgebliebenen. Er studierte an der Universität in Washington sowie am Institut für tibetische Nationalitäten in Xianyang, China. Ende der achtziger Jahre begann Tashi Tsering sein ehrgeizigstes Projekt: er nahm sich vor, die Ausbildungssituation in seiner Heimatregion zu verbessern. Persönlichen Erfahrungen haben ihn dazu veranlasst: "Wenn man nichts in der Hand hat, meint man nichts tun zu können. Ich habe inzwischen durch meine Lehrtätigkeit etwas Geld gemacht, mit dem ich mir gut ein Haus kaufen könnte, wie andere Leute auch. Ich habe jedoch selbst lange nach Bildung gesucht, und da ich jetzt zu den Priviligierteren gehöre, sollen die Kinder meiner Heimatprovinz etwas davon haben", so der agile Sechzigjährige.

Vier Jahre lang musste er mit den Behörden verhandeln, dann erhielt er 1991 endlich die Erlaubnis, unabhängige Grundschulen aufzubauen. Inzwischen gibt es in Namling 46 solcher Schulen mit jeweils etwa hundert Schülern. Unterstützt wird er von einem Förderverein in Bonn, der über das Projekt informiert und Spenden sammelt. Die Kosten für die Schulen werden zur Hälfte durch Zuwendungen aus dem Ausland gedeckt. Ein Viertel trägt die Dorfgemeinschaft durch Arbeits- und Sachleistungen bei; für den Rest kommt der Staat auf. Auf dem Stundenplan der Schüler steht nicht nur Sprach- und Sachunterricht. Auch Fächer wie Hygiene und Abfallbeseitigung werden den Kindern nahe gebracht. Diese Kenntnisse können sie jetzt schon in ihrem Alltag anwenden und manchmal sogar an ihre Eltern weitergeben. Natürlich ist Tashi Tsering auf das Wohlwollen der Behörden angewiesen. In den Schulen wird die tibetische Geschichte aus der Sicht der Chinesen dargestellt und Kritik an den gegenwärtigen Zuständen ist schon gar nicht denkbar. Aber damit kann sich der engagierte Gelehrte abfinden.

 

Perspektiven

Selbst in der Umgebung der Hauptstadt Lhasa, dort, wo die meisten Chinesen angesiedelt sind, haben sich die Tibeter nicht aufgegeben. In Töling, einem kleinen Dorf auf dem Weg, der von der Hauptstadt zum Flughafen führt, steht das älteste private Waisenhaus des Landes. Tendol Gyalzur  hat es errichtet, eine Tibeterin, die in der Schweiz lebt. Sie stammt aus Shigatse und verlor 1959 auf der Flucht nach Indien selbst ihre Eltern. Das Leben einer Waisen hat sie deshalb sehr geprägt. 1991 besuchte sie zum ersten Mal wieder das Land ihrer Herkunft. Dort berührte sie vor allem die Situation der Straßenkinder, die es überall dort gibt, wo die familiären Bindungen nicht mehr intakt sind. Ohne zu wissen, wohin sie gehören, schlagen sich die Kinder mit Betteln, gelegentlicher Arbeit oder Stehlen durch. Gerade die Kinder stehen jedoch für die Zukunft des Landes, und so entschloss sich Tendol Gyalzur nicht tatenlos zuzusehen. Sie nahm sich vor, ein Waisenhaus zu gründen. Außer dem festen Willen hatte sie nicht viel, worauf sie dabei zurückgreifen konnte. Doch

mit unerschütterlichem Optimismus und der nötigen Beharrlichkeit setzte sie ihren Plan durch. Die nötigen Gelder besorgte sie sich im Ausland; die chinesischen Behörden gaben schließlich die Erlaubnis. 1993  wurde das Waisenhaus mit zunächst sieben Kindern eingeweiht. Seitdem ist es kräftig gewachsen. Inzwischen sind zwei Gebäude fertig gestellt und aus sieben Kindern sind 24 geworden.

Die Kinder im Waisenhaus Tendol Gyalzur haben nicht nur genug zu essen und ein sauberes Bett, sie haben auch eine Zukunft. Der Schulbesuch zählt zu den festen Einrichtungen im Waisenhaus, und am Nachmittag helfen die Heimeltern den Kleinen bei den Hausaufgaben. Ebenso wie Tashi Tsering muss auch Tendol Gyalzur manchen Kompromiss eingehen. So fehlt das Bild des Dalai Lama auf dem Hausaltar, denn das tibetische Oberhaupt darf in seiner Heimat nicht gezeigt werden. Dennoch bekennt sie voller Überzeugung: "Mein Verstand sagt mir, dass die Zukunft meiner Heimat, meiner Familie und unseres Projektes nicht hoffnungslos aussieht. Hoffnungslosigkeit ist, so glaube ich, wahrhaftig eine tödliche Eigenschaft, die den Menschen anfallen kann".

So viel Idealismus stieß bei anderen Exiltibetern zunächst nicht auf große Zustimmung. Sie sei unpolitisch und gehe zu viele Kompromisse mit den chinesischen Besatzern ein, musste sie sich manchmal anhören. Ziel des Kampfes sei nicht ein bisschen Sozialarbeit von Chinas Gnaden für die Kinder, sondern die Unabhängigkeit des Landes.

Eine derartige Haltung mag zwar moralisch vertretbar sein; sie geht aber an der Wirklichkeit des Landes vorbei. Wenn die Entwicklung nicht gestoppt werden kann, wird den Tibetern das Schicksal der Indianer Amerikas oder der australischen Ureinwohner nicht erspart bleiben. In kleinen Reservaten werden sie ihrer Kultur nachgehen dürfen, weil das Devisen von neugierigen Touristen bringt, die vom alten Tibet träumen. Darüber hinaus wird sich das Land kaum mehr von einer chinesischen Provinz unterscheiden. Diese Einsicht hat sich inzwischen auch unter den Tibetern im Exil durchgesetzt. Kaum jemand kritisiert noch die selbstverwalteten Projekte. Sie wissen, dass solche Initiativen einen wichtigen Beitrag leisten, das tibetische Erbe in Tibet zu bewahren und den Kindern eine Zukunft in ihrer eigenen Kultur zu ermöglichen.

 

Zum Autor:

Klemens Ludwig ist Tibet-Experte. Er hat zahlreiche Bücher zum Thema geschrieben (u.a. "Tibet. Eine Länderkunde", Beck Verlag, München 4. Aufl. 2006). 2008 erscheint "Dalai Lama, Botschafter des Mitgefühls. Eine Biographie." Mit einem Vorwort des Dalai Lama, Beck Verlag,) und hält Vorträge zu Tibet. Termine dafür und nähere Informationen finden Sie unter www.tibet-ludwig.de

 

Hoch

 

MADAGASKAR

 

Teil I: Kinder der Straßenbücherei schreiben ihr eigenes Buch

Von Nasrin Siege, Madagaskar

 

„Wieviele Bücher haben Sie geschrieben?“ -  „Wie lange schreiben Sie an einem Buch?“ – „Was bringt Sie auf das Thema von einem Buch?“ … Solche und andere ähnliche Fragen kennt wohl jeder Autor, der vor einer Gruppe von Kindern aus seinen Büchern gelesen hat. Auch mir wurden sie oft gestellt, aber eher in den Klassenzimmern in Deutschland, Schweiz und Österreich, den Ländern, in denen ich aus meinen Büchern gelesen habe.

Diesmal – es ist April 2005 – werde ich von ca. zwanzig madagassischen Jungen und Mädchen befragt. Wir sitzen in der erst seit kurzem gebauten Straßenbücherei, die sich mitten in einem der ärmsten Wohnviertel Antananarivos befindet. Der Weg zur Bücherei hatte mich an ärmlichen Hütten vorbeigeführt, die sich links und rechts an einen kleinen schmutzig-grünen Kanal befanden, in dem sich der Unrat und das Abwasser sammelt. Hier, inmitten von Staub und Abfällen, spielten kleine Kinder, nicht weit von einem Müllberg, in dem eine junge Frau mit einem Baby nach etwas  Nützlichem wühlte.

 

 

Immer noch mit den eben gesehenen Bildern der großen Armut vor Augen, saß ich nun in dieser kleinen Straßenbücherei, schaute auf die halbvollen Regale und ließ mir von den stolzen Jugendlichen erzählen, wie sie mit Hand angefaßt hatten am Bau ihrer Bücherei.

Und dann kamen ihre Fragen an mich, die Autorin aus Deutschland. Immer wieder schnellten ihre Hände in die Höhe. Nachdem ich von mir erzählt hatte, auch wie und warum ich angefangen hatte zu schreiben, erfuhr ich, dass eine Reihe der Jungen und Mädchen auch schrieb. Ein Junge holte sein Heft und zeigte mir die ersten 25 Seiten seines Theaterstücks und ein Mädchen fragte, wann ich denn wiederkommen würde, denn sie hätte auch eine Geschichte geschrieben … Und irgendwann war die Idee vom eigenen Buch da, das sie alle mit ihren Geschichten füllen könnten. Dass ich wiederkommen würde, war danach keine Frage mehr.

 

 

Während der folgenden Werkstattgespräche haben sie ihr Thema eingegrenzt:  Die Jungen und Mädchen schreiben Geschichten und Gedichte über ihr Leben in ihrem Stadtviertel. Da es in Madagaskar wenige Bücher auf Malgach, der lokalen Sprache gibt, soll ihr Buch auf Malgach und Französisch erscheinen. Es wird illustriert und wenn genügend Mittel vorhanden sind, soll es in einer größeren Auflage in Madagaskar gedruckt werden.  Mit dem daraus erzielten Einkommen wollen die Jugendlichen u.a. Bücher für ihre Straßenbücherei kaufen. Die ersten Geschichten sind bereits fertig und werden derzeit von einer Studentin ins Französische übersetzt.

 

Inzwischen - es ist April 2007 - haben die Jugendlichen sich dafür entschieden, dass es auf Malagasy und in deutscher Sprache erscheinen soll. Eine Jugendliche hat alle Geschichten illustriert. Das Buch mit dem deutschen Titel „Tage unseres Lebens“ wird mit Spenden von „Hilfe für Afrika e.V.“ finanziert.

 

Hoch

 

 

MADAGASKAR

 

Teil II: Kinder auf Madagaskar

Von Nasrin Siege

 

Kinder der Straßenbücherei schreiben ihr eigenes Buch

Das Buch der Jugendlichen aus dem Armenviertel ist seit dem 1. Juni 2007 auf dem madagassischen Buchmarkt!

„Wieviele Bücher haben Sie geschrieben?“ - „Wie lange schreiben Sie an einem Buch?“ – „Was bringt Sie auf das Thema von einem Buch?“ … Solche und andere ähnliche Fragen kennt wohl jeder Autor, der vor einer Gruppe von Kindern aus seinen Büchern gelesen hat. Auch mir wurden sie oft gestellt, aber eher in den Klassenzimmern in Deutschland, Schweiz und Österreich, den Ländern, in denen ich aus meinen Büchern gelesen habe.

Diesmal – im Juni 2005 – wurde ich von ca. zwanzig madagassischen Jungen und Mädchen befragt. Wir saßen in der damals seit kurzem gebauten Bibliothek „Fanovozantsoa Joseph Wresinski“, die sich in Antohomadinika, einem der ärmsten Wohnviertel Antananarivos, befindet. Der Weg zur Bücherei hatte mich an ärmliche Hütten vorbeigeführt, die sich links und rechts an einen kleinen schmutzig-grünen Kanal befanden, in dem sich der Unrat und das Abwasser sammelt. Hier, inmitten von Staub und Abfällen, spielten kleine Kinder, nicht weit von einem Müllberg, in dem eine junge Frau mit einem Baby nach etwas Nützlichem wühlte.

Immer noch mit den eben gesehenen Bildern der großen Armut vor Augen, saß ich nun in dieser kleinen Bibliothek, schaute auf die halbvollen Regale und ließ mir von den stolzen Jugendlichen erzählen, wie sie mit Hand angefaßt hatten am Bau ihrer Bücherei. Und dann kamen ihre Fragen an mich, die Autorin aus Deutschland. Immer wieder schnellten ihre Hände in die Höhe. Nachdem ich von mir erzählt hatte, auch wie und warum ich angefangen hatte zu schreiben, erfuhr ich, dass eine Reihe der Jungen und Mädchen auch schrieb. Ein Junge holte sein Heft und zeigte mir die ersten 25 Seiten seines Theaterstücks und ein Mädchen fragte, wann ich denn wiederkommen würde, denn sie hätte auch eine Geschichte geschrieben … Und irgendwann war die Idee vom eigenen Buch da, das sie alle mit ihren Geschichten füllen könnten. Dass ich wiederkommen würde, war danach keine Frage mehr. Die Jugendlichen, die an ihrem eigenen Buch gearbeitet haben, sind in der Jugendbewegung von ATD Vierte Welt / Madagaskar aktiv (ATD: „Hilfe in aller Not“). Hier in Antananarivo unterstützen sie u.a. die Straßenbüchereien: Sie besuchen mit den MitarbeiterInnen vom ATD die Kinder von Antohomadinika auf Straßen und Plätzen innerhalb des Viertels. Da viele Kinder nicht zur Schule gehen und keine Bücher kennen, ist das Ziel, sie mit Büchern, Geschichten, Liedern und dem Malen vertraut zu machen. Einer der ATD-Mitarbeiter ist Lucas Rodwell, mit dem ich vom Beginn des Buchprojekts mit den Jugendlichen zusammen gearbeitet habe. Während der folgenden Werkstattgespräche mit Lucas und mit mir beschlossen die Jugendlichen Geschichten über ihr Leben in ihrem Stadtviertel zu schreiben. Dabei habe ich viel über ihre Lebenssituation erfahren und gesehen, dass das Schreiben für sie mit vielen Schwierigkeiten verbunden ist: Sie alle leben mit ihren Familien in kleinen notdürftig zusammengezimmerten engen Unterkünften in einem Armenviertel in Antananarivo. In ihren Wohnungen gibt es keinen Raum, in den sie sich zurückziehen können, in dem sie Ruhe zum Schreiben bekommen. Hinzu kommen ihre vielen Verpflichtungen – abgesehen von ihrem Engagement im ATD - , die sie in ihren Familien haben: All die Arbeiten, wie Wasserholen, Kochen, Saubermachen, Wäschewaschen und auf die kleineren Geschwister aufpassen, lassen wenig Zeit für die Schule und zum Schreiben.

Und trotzdem haben sie weiter an ihrem Buch gearbeitet! Da es in Madagaskar wenige Bücher auf Malagasy, der lokalen Sprache gibt, sollte ihr Buch ursprünglich auf Malagasy und Französich erscheinen. Es sollte von einem der Mädchen illustriert werden und in Madagaskar gedruckt werden.  Mit dem daraus erzielten Einkommen wollten die Jugendlichen u.a. Bücher und Material für ihre Bibliothek und die Straßenbücherei kaufen. Im November 2006 machten wir einen Ausflug in den Regenwald bei Andasibe. Die Jugendlichen lasen sich gegenseitig ihre fertigen Geschichten vor, diskutierten erneut die Frage der zweiten Sprachen des Buches und beschlossen kurz danach, dass ihr Buch in Malagasy und Deutsch erscheinen sollte.  Das war imGrunde der zweite entscheidende Schritt, denn von nun an konnte ich – die Autorin aus Deutschland - die deutschen Übersetzungen besser überarbeiten. Der deutsche Titel ist: „Madagaskar – Tage unseres Lebens“. Sieben Jugendliche– Celine, Lucy, Naina, Brigitte, Ravaka, Naval und Jocelyn aus Antananarivo erzählen Geschichten aus ihrem Leben und Ruffin aus Tulear hat einen Artikel über die Beerdigungszeremonien der Vezo (der Etnie, der er angehört) geschrieben. Die Jugendliche Prisca Rakotomanga hat die Erzählungen illustriert. Am 1. Juni 2007 ist das Buch bei der Imprimerie Lutherienne in Madagaskar in Malagasy und Deutsch erschienen!!!

Gerade rechtzeitig, denn unsere Termine für die Präsentationen des Buches in der Bibliothek in Antohomadinika am 2. Juni 2007 und im Goethe Zentrum am 6. Juni standen schon fest. Das waren große Tage für die jungen AutorInnen und Prisca! Endlich war der Traum vom eigenen Buch kein Traum mehr,sondern Realität! Beide Veranstaltungen waren sehr schön, mit vielen Gästen und aufgrund der unterschiedlichen Lokalitäten auch sehr unterschiedlich. In Antohomadinika waren viele Nachbarn, Freunde und Mitglieder anderer Hilfsprojekte gekommen. Im Goethe-Zentrum trafen wir Besucher aus der internationalen Gemeinde, Madagassen, die in irgend einer Weise mit Deutschland und der deutschen Sprache verbunden waren und Mitgliedern anderer Hilfsprojekte. Besonders geehrt fühlten wir uns alle durch den Besuch des deutschen Botschafters, Dr. Wolfgang Moser, im Goethe-Zentrum (6.6.2007).  Der Ablauf beider Veranstaltungen war ähnlich: Wir hatten eine kleine Pantomime vorbereitet, mit der wir unsere Sitzungen in dem kleinen Arbeitsraum vor gespielt haben. Danach haben die jungen Leute sich vorgestellt und aus ihren Texten vor gelesen und ich habe Teile aus den deutschen Übersetzungen vor getragen. Zur Untermalung hatten wir Priscas Illustrationen aus gestellt.  Am 25. November 2007 werde ich im Rahmen einer Ausstellung (mit den ersten handgeschriebenen Texten, ersten Übersetzungen in Französich und dann in Deutsch, Überarbeitungsprozess, Fotos, Illustrationen etc.) in der PH Heidelberg vom Entstehen des Buches der Jugendlichen erzählen.  Sie sind alle herzlich dazu eingeladen! Das Buchprojekt wurde mit Hilfe von Spenden von Hilfe für Afrika e.V. finanziert. Da das Buch in Madagaskar erschienen ist, können Sie es nicht im deutschen Buchhandel bekommen. Die erste Auflage von 600 Exemplaren ist in Madagaskar bereits vergriffen und die zweite Auflage ist anvisiert. Eine begrenzte Anzahl Bücher kann ab Juli 2007 von Hilfe für Afrika gekauft werden. Kontakt über WorldWideWeb. hilfefuerafrika.de

Der Erlös vom Verkauf wird für ATD Madagaskar und andere Projekte verwendet werden.

 

Zur Autorin:

Nasrin Siege ist eine bekannte deutsch-iranische Kinderbuchautorin. Ihre Bücher erscheinen im Beltz Verlag und im Verlag Brandes& Appel.

Lesen Sie in "Leserfragen" die Empfehlung von Sieges Serengeti-Buch sowie in der Rubrik "Das Eine Buch" die Rezension, die Nasrin Siege zu Navid Kermanis "Ayda, Bär und Hase" verfasst hat. 

 

Hoch

 

RUMÄNIEN

 

Rumänische Straßenkinder

Von Carolin Philipps

 

»Ich habe keine Träume mehr!«, sagt Adrian und wickelt sich frierend in seinen roten Mantel. Ein Vierzehnjähriger, dem das Leben die Träume gestohlen hat. Sein Foto und seine Worte flatterten mir an einem Tag im März 2005 zusammen mit der Anfrage des Verlages auf den Schreibtisch, ob ich nicht eine Geschichte über die Straßenkinder von Bukarest schreiben wolle. Ich wollte schon, doch ich schrieb gerade an einer anderen Geschichte. Aber das Bild vom »Prinzen mit dem roten Mantel«, wie Adrian von seinen Freunden genannt wird, ließ mir keine Ruhe und so machte ich mich im Sommer 2005 mit meinem Sohn auf den Weg nach Bukarest, um das Leben der Kinder und Jugendlichen am Bahnhof vor Ort zu studieren.

Eine Woche lang lebten wir mit ihnen auf der Sozialstation St. Lazarus, wir schliefen Tür an Tür mit ihnen, nahmen an ihren Mahlzeiten teil und verbrachten die Abende mit ihnen. Gemeinsam mit den Sozialarbeitern besuchten wir die Kinder am Bahnhof, in den unterirdischen Kanalwohnungen, und auch die Kinder, die den ersten Schritt von der Straße weg in die Kinderhäuser geschafft haben. Einen Monat später kam ich mit meinem zweiten Sohn nach Bukarest zurück, um am Sommerfest der Concordia-Familie auf der Farm teilzunehmen.

Entsetzen, Mitleid, Hilflosigkeit, aber auch Freude, Lachen und Hoffnung und jede Menge Träume. Die Erfahrungen mit den Kindern und Jugendlichen vom Bahnhof sind vergleichbar mit einer Achterbahnfahrt, in der unsere widersprüchlichen Gefühle und Gedanken durcheinander gewirbelt werden.

Nur eins wussten wir nach unserer Rückkehr ganz genau: Die Tage in Bukarest haben uns verändert. Dinge, die für uns vorher selbstverständlich waren, haben plötzlich den Charakter des Besonderen angenommen, eines Privilegs, für das wir dankbar sind, oder wie mein Sohn es ausdrückte: »Wir können nie mehr einfach da weitermachen, wo wir vorher waren. Es ist alles durcheinander geraten.«

 

Zur Autorin:

Carolin Philipps hat das Buch "Träume wohnen überall" über Straßenkinder in Rumänien geschrieben. Der Text ist das Nachwort aus dem Buch. Es ist im Ueberreuter Verlag erschienen (ISBN 3-8000-5210-5)

 

Hoch

 

 

   
 

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