Nasrin
Siege / Barbara Nascimbeni: Wenn der Löwe brüllt
Von Anne
Spitzner
Wenn
der Löwe brüllt, haben die Kinder Hunger. Doch anders als die meisten
Kinder hierzulande haben Bilali und Emanuel, die beiden Hauptfiguren
dieses Buches, kein Essen, um den Löwen zufriedenzustellen – Emanuel und
Bilali sind Straßenkinder in einer namenlosen afrikanischen Stadt. Wenn
für sie der Löwe brüllt, müssen sie betteln gehen oder hart arbeiten,
und dabei begegnen ihnen nicht nur freundliche Menschen, sondern in der
überwiegenden Mehrheit unfreundliche Zeitgenossen und sogar Diebe, die
ihnen ihr hart verdientes Geld gleich wieder wegnehmen.
Dass
diese Geschichte nicht nur traurig ist, verdankt sie dem
unerschütterlichen Optimismus ihrer beiden Protagonisten, die sich weder
vom Hunger noch vom Elend unterkriegen lassen, sondern unbeirrt weiter
von einem besseren Morgen träumen. Aber den größeren Verdienst an der
trotz der traurigen Umstände vorhandenen Fröhlichkeit der Geschichte
haben eindeutig die bunten Bilder von Barbara Nascimbeni, auf denen es
so viel zu entdecken gibt, dass man schon mal vergessen kann, dass man
eigentlich gerade zwei hungrigen Kindern durch die Straßen folgt.
„Wenn
der Löwe brüllt“ ist eine schöne Möglichkeit, den hiesigen, mehr oder
weniger verwöhnten, im Vergleich mit Bilali und Emanuel jedoch recht
glücklichen Kindern klarzumachen, dass es andere auf dieser Welt gibt,
denen es nicht so gut geht wie ihnen.
Und
trotz dieser wichtigen Botschaft sind Emanuel und Bilali keine kleinen
Moralapostel mit erhobenem Zeigefinger, sie sind und bleiben Kinder, die
lachen, spielen und herumtollen – Kinder, deren ständiger Begleiter ein
Löwe namens Hunger ist.
Henri
Mbarga, Billy Djité: "Warum das Schwein keine Hörner hat und andere Geschichten aus Kamerun"
Von Bettina Meinzinger
Immer wieder nimmt der Baobab Verlag seine kleinen Leser mit auf eine
Reise in ihnen zumeist fremde Länder.
Diesmal nach Kamerun.
In
Kooperation mit dem Museum Rietburg erschienen ist nun eine Sammlung mit
kamerunischen Fabeln: Mbintu die Schildkröte ist ganz schön clever und
trickst sogar den viel größeren Elefanten und das Nilpferd aus. In der
Geschichte „Das mutige Trio“ beweisen ein Gorilla, ein Panther und ein
Schimpanse, dass man seine eigenen Begabungen nicht gering zu schätzen
braucht. Die Fledermaus wiederum kann sich nicht entscheiden, wohin sie
gehört, die Antilope hingegen besticht durch ihre Ehrlichkeit.
Eine große Vielfalt unterschiedlichster Charaktere, wie sie auch bei uns
Menschen aufzufinden ist, steckt in diesen Erzählungen.
Lustig illustriert sind die Tiergeschichten von dem aus Senegal
stammenden Billy Djité.
(Ab 6)
Henrik Mbarga / Bily Djité:
"Warum das Schwein keine Hörner hat und andere Geschichten aus Kamerun"
Zugegeben:
Es ist etwas beschwerlich, anzukommen im Dorf Morakondro in Madagaskar,
in dem die Protagonistin dieses Buches lebt. Todisoa, genannt Toddy, ist
die älteste Tochter einer fünfköpfigen Familie, den Großvater Dadabé mit
eingerechnet. Ihre Welt balanciert zwischen ethnischen Riten, Mythen und
Geschichten und der immer präsenten Natur, Bedrohung und Ernährerin in
einem, Schutz und Spielort kindlicher Fantasie.
Doch es lohnt sich, dort hinein zu
schlüpfen. Hat man sich erst eingelebt, geht man neben Toddy durch den
sagenumwobenen Wald zur Schule, hilft der Mutter beim Kochen, liebt
Fliegennetze und wünscht sich genauso wie Todisoa, das Riesenrad in der
großen Stadt zu sehen.
Kaum in dieser Welt angekommen, zerstört
ein Sturm das Haus der Familie und damit Toddys bekanntes Leben. Die
Geschichte beginnt, wir müssen mit. Toddys Vater will mit seiner Familie
sein Glück in der Stadt versuchen - gegen den Willen der Mutter, der
Kinder, trotz Warnungen der Dorfbewohner. Dass das sicher nicht gut
gehen wird, rufen auch wir dem Vater zu. Doch der will nicht hören.
Todisoas Begeisterung für die kleine
schönen Dinge in der Stadt steckt an. Die Häuser wirken „so, als würden
sie auf- und übereinander klettern“. Doch es folgen Wohnungs- und
Arbeitslosigkeit, sozialer Abstieg. Die Kinder betteln und leiden
Hunger. Todisoa fragt sich, wer hier in der Stadt das Glück bringt, wo
es doch keinen Wald mit den Wichteln „Kalanoro“ gibt, die das
normalerweise übernehmen. Wir und Todisoa fühlen uns ausgeliefert und
haben Sehnsucht nach dem alten Leben, das sich nun in der Erinnerung
verklärt und romantisch anfühlt.
Todisoa wird nun immer mehr ein recht
erwachsenes Kind. Sehr reflektiert begreift sie Zusammenhänge,
hinterfragt das Verhalten ihrer Eltern und leidet unter ihrer kindlichen
Ohnmacht. Sie fragt sich, ob sie eine gute Tochter ist, sie ist wütend
auf ihren alleine entscheidenden Vater und hat Angst vor der Zukunft.
Und zudem ist sie die Starke, die Verantwortung schwer trägt. Etwa, als
die kleinen Geschwister verschwunden sind oder der Vater ins Gefängnis
muss.
Das alles kann man nicht ertragen, ohne
eine klein bisschen erwachsener zu werden.
Den Erwachsenen wünscht man das
Erwachsenwerden in diesem Buch oft etwas früher, Todisoa dagegen etwas
später. Ankommen werden schließlich alle. Denn zuletzt siegt die
Sehnsucht, die das ganze Buch durchzieht. Wie Großvater Dadabé gesagt
hat.
Dieses Buch vereint die großen
Menschheitsthemen: Existenzängste, Fragen nach dem Sinn, Freundschaft,
Familienalltag, Spiel und Lernen. Das kennen wir, das zieht uns mit. Man
mag Längen auf Grund zu flacher Spannungsbögen kritisieren - dieses Buch
möchte etwas anderes, was ihm außerordentlich gut gelingt: Wir spüren
Todisoa mit all ihren Wünschen und Ängsten in dieser völlig fremden
Welt, da die Autorin sie mit authentischem Leben füllt und uns dabei
begleitet.
Wieder einmal hat der
Schweizer Baobab Verlag ein sicheres Gespür dafür bewiesen,
außergewöhnliche Kinderbücher aus der weiten Welt, diesmal aus Japan,
herauszupicken und zu veröffentlichen.
Hoh rim rim,
hoh rim rim.
Hasengott
Isopo Kamui lebt in vollkommener Freiheit inmitten der blühenden
Landschaft Hokkaidos. Im Sommer labt er sich an saftigem Gras, im
Winter stellt die Natur ihm Nüsschen und Beeren zur Verfügung. So
verlebt er glücklich Jahr um Jahr. Als wiederum ein neuer Frühling
beginnt, beschließt Isopo, einen Ausflug ans wunderschön blaue Meer zu
machen.
Hoh rim rim,
hoh rim rim.
Schwerelos
springt er abermals über Wiesen und Felder, am Wasser angekommen lauscht
er dessen betörenden Klängen.
Dabuhn, dabuhn,
tsah, schorokoroh.
Aber bald
merkt er, wie seine Sehkraft nachlässt und er Raben für Menschen und
ans Land gespültes Seegras für einen Walfisch hält.
Isopo Kamui
seufzt.
Er muss sich
eingestehen, dass für ihn die Zeit gekommen ist, nach Hause
zurückzukehren. Seine Jugendtage sind vorbei, doch er entdeckt, dass das
Alter seine eigenen Vorzüge und Freuden mit sich bringt.
Der ruhige,
poetische Erzählton dieser leisen und weisen Geschichte und die
dazugehörigen Illustrationen, traditionell japanische Holzschnitte von
Tejima Keizaburo, lehren, die Schönheit der Dinge wahrzunehmen und zu
begreifen. Sie zeigt aber auch, wie wertvoll es ist, füreinander da zu
sein, und dass jedes Alter, jung und alt, seine eigenen Qualitäten,
Entbehrungen als auch neue Vergnügen, mit sich bringt.
Hoh rim rim,
hoh rim rim.
(Ab 5)
Tejima
Keizaburo / Shitaku Yae:
„Der
weise Hase Isopo. Ein Bilderbuch aus Japan“
Baobab
Books 2011
36
Seiten, Euro 16,50
ISBN
978-3905804331
"Der
Mond zu Gast", ein Buch von Ando Mikie, eignet sich
hervorragend dazu, es jemandem vorzulesen , den man sehr lieb hat. Oder
es sich vorlesen zu lassen.
In „Der Mond zu Gast“
geht es um keine geringeren Themen als Freundschaft, Einsamkeit,
Freiheit, Liebe und Vergänglichkeit. Und diese sind mit einer besonders
großen Portion Liebreiz und Klugheit in sieben originelle und
erfrischende Geschichten verpackt. Mal irrsinnig komisch, mal traurig.
Eines sind sie bestimmt nicht: vorhersehbar. Außergewöhnliches
versprechen allein die illustren Protagonisten wie die nach Freiheit und
Unabhängigkeit strebende Kaulquappe Hä, die einen Freund in dem
furchteinflößenden Libellenjungen findet. Oder die Holzbiene, die vor
Lachen tot umfällt. Oder ein von innen nach außen gestülpter
Schlangenvater, der die Vergangenheit nicht loslassen kann. Oder
Hoitschi, der Hirschbock, der am Sinn des Lebens verzweifelt und sich
daraufhin einen Stuhl ins Geweih und den eigenen Vater als
Kleidungsstück umhängt.
Die Illustratorin
Shimowada Sachiyo ergänzt diese Geschichten um charmante Zeichnungen.
„Der Mond zu Gast“
ist bisher das erste Buch der Autorin Ando Mikie, das ins Deutsche
übersetzt wurde. Aber hoffentlich nicht das letzte!
(Ab 8)
Mikie
Ando / Sachiyo Shimowada:
"Der
Mond zu Gast: 7 ungewöhnliche Geschichten aus Japan über das Leben und
das Glück"
(librikon) Dänemark ist eine schwierige
Heimat. Da gab es eine Zeit, da schwebte der Geist von Christiania, vom
freien Hippie-Leben von Kopenhagen aus durch Europa und zog alle an, die
leben wollten, wie es ihnen gefiel, und das auch noch friedvoll. Davon
ist nichts mehr übrig, und das ganz besonders in Dänemark. Das, was
heute von außen als ein kleines Ferienland mit Meeren und mehr nicht
wahrgenommen wird, ist heute ein Bollwerk der Reaktion. Ausländer sind
politisch nicht gern gesehen, viele haben das Land verlassen, der
Arbeitsmarkt wird um den Preis des totalen Abhängens der unteren
Schichten am Leben erhalten, alle Dänen von Horizont haben sich, man
weiß nicht, wohin, zurückgezogen, und das Straßenbild in der Provinz,
also in fast dem ganzen Land, ist von Geistlosigkeit durchweht. Künstler
sollen etwas Nützliches machen und Kunsterzieher im Schuldienst werden,
zur Not zwangsweise über das Drehen an der Sozialhilfe, solche Dinge
dürfen dänische Politiker in der Öffentlichkeit ungeschoren sagen.
Das
ist die Stimmung, in der heute ein Teil der dänischen Kinderliteratur –
es ist der ernsthaftere Teil- entsteht. Dänische Kinderbuchautoren haben
etwas mit Politik zu tun: In den sechziger Jahren wurde ein Gesetz
erlassen, die Bibliotheken des Landes hätten dänische Kinderbücher
anzuschaffen. Ein kleines Land, eine kleine Sprache – Förderung kann
sinnvoll sein. Ende der siebziger Jahre erreichten die publizierten
Titel die Tausend. Zwölf „Silas“-Bücher waren dabei, Cecil Bodker
brachte damit die Serie ins dänische Kinderliteraturleben. In den
siebziger Jahren endete die Förderung, das Geld war nicht mehr da. Bei
der hohen Zahl an Büchern blieb es. Namen waren bekannt geworden, Bücher
in andere Sprachen übersetzt und man hatte sich, das vor allem,
emanzipiert von Vorgaben für Kinderbücher. Ganz vorne Kim Fupz Aakeson,
der die Kinderliteratur von gesellschaftspolitisch-pädagogischer
Vereinnahmung befreit hat. Hohe Qualität stand, nur logisch, neben
dicken historischen Kinderschmonzetten, Öko-Tribunalromanen und, mit der
Tendenz nach oben, Science-Fiction.
Wer
noch immer von Vivi Bachs wundervollem „Wir Kinder aus Kopenhagen“
träumte und nie mehr etwas Gleichartiges fand, der konnte sich immerhin
am dänischen Bilderbuch erfreuen – allein an Thomas Windings „Kleiner
Bär“-Bücher. In seinen deutschen Ausgaben hatte er, der hintergründig
und zum Nachsinnen ist, Pech mit den Mainstream-Illustratoren
Könnecke und Erlbruch, bei denen die Verlage in den neunziger Jahren
wohl dachten, sie machten die Bücher verkäuflich. Wer indes die
Hintergründigkeit der Texte liebt, kann sich schwerlich mit
oberflächlichen Illustrationen anfreunden.
Thomas
Winding, der 2008 verstorben ist, ragte auch mit seinen Prosawerken
heraus. Seine Bücher tragen die Züge von Dichtertum, von Künstlerleben,
und er ist einer der wenigen, die auch in Übersetzungen eine
Gesamtausgabe verdient hätten. Stattdessen muss man seinen auf deutsch
erschienenen Büchern antiquarisch hinterherspüren.
National wie international ist es Bjarne
Reuter, der, ohne Unterlass auch Kinderbücher schreibend, ein
Auflagenkönig ist; mit wie viel Überbleibseln an Schriftstellerischem
wir es in seinen Büchern zu tun haben, darüber ließe sich streiten. Die
dänische Kinderliteratur steht nicht allein in der Welt, sie ist nicht
einzigartig; vom Inhalt nicht und nicht von den Marktgesetzen her.
Geschrieben und verkauft wird, was den Geschmack der vielen trifft.
Geschrieben und nicht der Menge Zugängliches, bleibt verborgen; heute,
da auch in Dänemark nur noch als Kultur gefeiert wird, was viele mögen,
mehr denn je.
Kinderbücher aus Island finden selten den Weg zur deutschen Übersetzung
–trotz ihrer hohen Qualität
Von
Brigitte Bjarnason, Hafnarfjödur
„Neue Bücher sind immer sehr beliebt” lautet die Antwort isländischer
Bibliothekare, wenn sie nach den attraktivsten Büchern in der
Kinderabteilung gefragt werden. Fantasy und Horror stehen dabei ganz
oben auf der Wunschliste der jungen Leser. Die Kurzgeschichtensammlung „Draugurinn
sem hló“ („Das lachende Gespenst“) mit 15 gruseligen Geschichten
bekannter skandinavischer Autoren sowie die Fantasyromane „Die
Chroniken von Narnia“ und „Harry Potter“ stehen meist nur kurz
unausgeliehen in den Regalen der Büchereien. Großen Anteil an dem Erfolg
der Fantasybücher hatten mit Sicherheit die gleichnamigen Kinofilme, die
im Winter die Kinosäle auf Island füllten. Auffällig ist, dass zwei
ebenfalls sehr beliebte Bücher in keine der beiden Kategorien passen:
Das Buch „Strákarnir með strípurnar“ („Die Jungen mit Strähnen“) und „
Kossar og ólifur“ („Küsse und Oliven“) erzählen von realen
Lebenserfahrungen isländischer Jugendlicher.
„Strákarnir með
strípurnar“ – „Die Jungen mit Strähnen”
Ein Buch von
Ingibjörg Reynisdóttir und Lovísa Thórdardóttir
Gabriel
besucht die 10. Klasse. Er hat viele Freunde. Auch die Mädchen mögen ihn
und erzählen ihm gern von ihrem Liebeskummer. Eines Tages bestätigt
sich, was er schon lange geahnt hat. Auf einer Party erfahren es auch
seine Freunde. Gabriel ist homosexuell. Schlagartig ändert sich das
Verhalten der Freunde ihm gegenüber.
Die Autorin und
Schauspielerin Ingibjörg Reynisdóttir hat zusammen mit ihrer 14jährigen
Tochter Lovísa Thórdardóttir in dieser Ich-Erzählung die Gefühlswelt des
knapp 16jährigen Gabriel beschrieben. Die Kulisse entspricht der Welt
der isländischen Jugendlichen in der heutigen Zeit. Probleme mit
Lehrern und Eltern werden ebenso angesprochen wie das leichte Abrutschen
in die Welt der Drogen und der Vergnügungssucht. Freunde sind wichtig im
Leben von Gabriel. Doch wer sind seine wahren Freunde?
Das Buch ist auch für
Eltern interessant, weil Jugendliche sich gerne abkapseln und
Erwachsenen gegenüber wenig von ihrem Seelenleben preisgeben. Das
erfahrungsreiche Kapitel aus dem Leben Gabriels ist schnell gelesen, da
es den Leser durchgehend fesselt. Das Buch hinterlässt einen
nachhaltigen Eindruck und weckt Verständnis für die Probleme der
jüngeren Generation in unser Gesellschaft.
„Kossar
og Ólífur“ – „Küsse und Oliven“
Ein
Buch von Jónína Leósdóttir
Die
16jährige Anna meint, küssen ist wie Oliven essen. Man tut so, als ob
sie schmecken, weil niemand zugeben mag, wie eklig sie doch in
Wirklichkeit sind. Anna macht ihre ersten Liebeserfahrungen. Sie hängt
sehr an ihrem achtzehnjährigen Freund Stjáni, doch erst als sie während
eines Sommeraufenthaltes in Südengland ihre Freundin Linda küsst, wird
ihr klar, dass Küsse auch anders als Oliven schmecken können.
Das Buch „Küsse und
Oliven“ könnte die Mädchenausgabe von dem Buch „Jungen mit Strähnen“
sein. Schauplatz der Geschichte ist Brighton, wo Anna den Sommer über
bei der Cousine ihres Vaters in einem Gästehaus arbeitet. Sie trifft
ihre Brieffreundin Linda, die seit der Scheidung ihrer wohlhabenden
Eltern an Magersucht leidet. Ihre isländische Freundin Kata besucht sie
und verliebt sich in einen indischen Jungen, der ein von seinen Eltern
auserwähltes indisches Mädchen heiraten soll. Für Anna, die in einem
Dorf in Island aufgewachsen ist, ist Brighton ein Ort voller Gegensätze.
Mit einem reichen Schatz an neuen Erfahrungen kehrt sie am Ende des
Sommers nach Island zurück.
Gleichgeschlechtliche
Liebe und Magersucht sind keine Tabuthemen mehr und gehören ohne Zweifel
zu der Lebenswelt Jugendlicher und damit in die heutige Jugendliteratur.
In diesen beiden Jugendbüchern wird auf behutsame Weise darauf
eingegangen.
Island – die Büchernation
Es wird behauptet,
dass jeder zehnte Isländer irgendwann mal etwas veröffentlicht: ein
Buch, eine Kurzgeschichte, ein Gedicht. Jedes Jahr zu Weihnachten
erscheint eine wahre Flut von Büchern auf dem Markt. Vielleicht liegt es
an den langen dunklen Wintern, dass die Isländer so bücherbegeistert
sind.
Isländische
Romanautoren, wie z.B. Arnaldur Indridason, Einar Már Gudmundsson oder
Steinunn Sigurdardóttir sind auch in Deutschland bekannt. Neu ist der
Erfolg isländischer Kriminalromane. Auf der rund 300.000 Einwohner
zählenden Insel im Nordatlantik ist die Kriminalität gering. Dennoch
scheint das rauhe Klima und die unberührte karge Landschaft die Fantasie
der Autoren anzuregen und die Leser in ihren Bann zu ziehen.
Leider bewegt sich in
dieser Hinsicht bei der Kinderliteraturszene wenig. Jedes Jahr
erscheinen zahlreiche gute Kinderbücher in isländischer Sprache. Doch
das Geschäft mit der ausländischen Vermarktung scheint sich nicht zu
lohnen.
Das ist schade, denn
die deutsche Kinderbuchwelt könnte von isländischer Kinderliteratur
profitieren, sie bereichern und zu mehr Buntheit verhelfen. Isländische
Kinderbuchautoren sind talentiert und literarisch versiert. Aber auch
neue junge Autoren überraschen jedes Jahr mit unterhaltsamen Büchern.
Insbesondere die Jugendbuchszene hebt sich da in diesem Jahr hervor.
Die
Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass 317 Millionen
Kinder im Alter von fünf bis 17 Jahren mindestens eine Stunde am Tag
arbeiten. Sie gelten damit als erwerbstätig. In dieser Zahl enthalten
sind 218 Millionen Jungen und Mädchen, die täglich mehrere Stunden
arbeiten müssen. Sie gelten per Definition der ILO als Kinderarbeiter.
Unter ihnen sind 126 Millionen Mädchen und Jungen, die ausgebeutet
werden oder unter sklavenähnlichen Bedingungen arbeiten. Für die
Altersgruppe fünf bis 14 Jahre weist die ILO folgende Zahlen aus: 191
Millionen erwerbstätige Kinder, 166 Millionen Kinderarbeiter und 74
Millionen Kinder in gefährlicher Arbeit. Die meisten arbeitenden Kinder
sind im informellen Sektor tätig, also dort, wo die Arbeit
selbstorganisiert ist und weder Verträge noch Sozialleistungen gelten.
Nicht jede Arbeit von Kindern ist
Ausbeutung. Nicht jede Form der Kinderarbeit muss bekämpft werden. Ohne
Kinderarbeit könnten viele Familien nicht überleben. In manchen Regionen
der Welt ist die Mitarbeit von Kindern Teil des Erziehungsprozesses.
Allerdings dürfen diese Formen der Arbeit nicht in Ausbeutung ausarten.
Eine international anerkannte Definition von ausbeuterischer
Kinderarbeit liegt seit 1999 mit der ILO-Konvention 182 gegen die
schlimmsten Formen der Kinderarbeit vor.
Ausbeuterische Kinderarbeit ist laut
ILO-Konvention 182:
• Sklaverei und Schuldknechtschaft und
alle Formen der Zwangsarbeit
• Arbeit von Kindern unter 13 Jahren
• Kinderprostitution und -pornografie
• der Einsatz von Kindern als Soldaten
• illegale Tätigkeiten, wie zum Beispiel
Drogenschmuggel
• Arbeit, die die Gesundheit, die
Sicherheit oder die Sittlichkeit gefährdet, also zum Beispiel Arbeit in
Steinbrüchen, das Tragen schwerer Lasten oder sehr lange Arbeitszeiten
und Nachtarbeit.
Eine Schule inmitten des indonesischen
Urwaldes. Ein Stamm, der seine Kinder lernen lässt, damit sie nicht
ausgenutzt werden. Und ein Unterricht, der dem Gespür für den richtigen
Zeitpunkt folgt: Albert Recknagel hat die »Orang Rimba« besucht und
dabei die Faszination der Andersartigkeit erfahren.
Das erste Zusammentreffen mit den Orang
Rimba ist enttäuschend: Statt Dschungelmenschen – dies ist die Bedeutung
von Orang Rimba – erwarten uns im letzten Dorf vor dem Urwald vier
Jugendliche in schwarzen T-Shirts auf ihren Motorrädern.
Glücklicherweise hat es in der Nacht nicht geregnet, so dass der 15
Kilometer lange Pfad in den Wald für Motorräder passierbar ist. Sonst
hätten wir laufen müssen.
Wir sind tags zuvor in Indonesiens
Hauptstadt Djakarta in den Flieger nach Jambi gestiegen, von dort mit
dem Bus sechs Stunden bis Bangko gefahren und haben dort übernachtet, um
morgens früh mit dem Buschtaxi bis hierhin gebracht zu werden. Unterwegs
haben wir Reis, Gemüse und Trockenfisch eingekauft. Zusammen mit meiner
indonesischen Kollegin Sri Eni und einer Vertreterin der Organisation
Sokola, die hierfür verantwortlich zeichnet, will ich das von terre des
hommes unterstützte Projekt einer Dschungelschule besuchen.
Auf dem Soziussitz einer 125-er Yamaha
bringt mich der 14-jährige Penguar immer tiefer in sein Territorium, den
240.000 Hektar umfassenden Nationalpark Bukit Duabelas, die Heimat der
etwa 2500 Orang Rimba. Bis heute sind Penguars Großeltern
„Steinzeitmenschen“, Waldnomaden, die von der Jagd auf Wild und dem
Sammeln wilder Bananen, von Nüssen, Sprösslingen und Honig leben.
Inzwischen benutzen sie ab und zu – obwohl ungern – die Hacke, um etwas
Reis, Maniok oder Mais anzupflanzen.
Nachdem wir etwa die Hälfte des Weges
zurückgelegt haben, treffen wir im Wald unvermutet auf eine kleine
Gruppe. Diese Orang Rimba sind am Vortag losgezogen, um wilden Honig zu
sammeln, wie sie sagen. Meine Ansprechpartnerin Butet erklärt mir mit
einem Augenzwinkern, dass dies die Umschreibung dafür ist, dass sie mal
wieder losziehen mussten. Allzu lange halten sie es in ihren Hütten
nicht aus. Sesshaft wird man nicht von heute auf morgen. Nach ein paar
Tagen des Umherstreifens im Busch kommen sie dann zurück zu Feld und
Hütte. Im Regenwald ist Kleidung eher störend und überflüssig. Diese
Orang Rimba verzichten deshalb weitgehend auf sie.
Eine halbe Stunde später erreichen wir
Sokola Rimba, die Dschungelschule, einen vier mal fünf Meter großen
Pfahlbau auf einer kleinen Lichtung inmitten des Waldes. Eine Ansiedlung
ist nicht zu sehen, aber ein gutes Dutzend Jungen und der Demungun, das
Oberhaupt des Stammes, empfangen uns. Butet, meine Kollegin von Sokol,
übersetzt aus der altmalayischen Sprache der Orang Rimba ins Englische.
Für viele Begriffe aus dem Ökosystem Regenwald und der
spirituell-religiösen Welt der Orang Rimba gibt es kein passendes
englisches Wort. Aber es reicht aus, um sich angeregt zu unterhalten.
Oft sind Gesten sowieso wichtiger als Worte. Auf meinen Arbeitsreisen in
fremde Länder habe ich immer ein kleines Fotoalbum mit privaten Bildern
dabei. Die Fotos zeigen meine Familie, unser Heuerhaus, die
Nachbarschaft, einige wichtige Feste und vieles mehr. Das schlägt
schnell Brücken. „Was esst ihr? Gehen deine Söhne auch auf die Jagd?“,
lauten jetzt die Fragen der Orang Rimba. Auf einem der Bilder sieht man
unsere Kinder beim Schneemannbauen. „Kann der weiße Mann laufen?“
Andersartigkeit fasziniert.
Inzwischen ist es später Vormittag. Einige
der Jungen und Lehrer beginnen das Essen vorzubereiten. Der elfjährige
Mijak fragt mich, ob ich ihn begleiten will. Er möchte im Urwald
aufgestellte Fallen überprüfen. „Vielleicht gibt es ja heute Abend
Wildschwein!“, ruft uns Butet hinterher. Mit der Machete schlägt Mijak
einen Weg durch das Gestrüpp. Wann immer möglich, wechseln wir in
Bachläufe, das ist bequemer. Leider sind alle Fallen leer. Mijak kennt
jeden Busch, jeden Baum, weiß genau, wessen Nüsse gut schmecken oder
wessen Rinde das Fieber senkt. Gerade als ich denke, dass es im Wald
doch ziemlich ruhig ist, brüllt eine Horde Affen los. „Jetzt ist
Mittag“, kommentiert Mijak. Als ich ihn fragend angucke, erklärt er,
dass die Gibbons immer um diese Zeit brüllen. Eine Uhr braucht man hier
nicht, schießt es mir durch den Kopf. Mittag ist, wenn der Magen knurrt
und die Gibbons schreien.
Nach dem Essen – zubereitet von unserem
Einkauf – frage ich vorsichtig an, wann denn eigentlich mal Schule sei?
„Gleich“, lautet die Antwort. Erst einmal aber wird abgewaschen und die
Feuerstelle geordnet. Einige der Kinder beginnen mit einem aus
Stoffresten und Gummibändern geformten Ball zu spielen. Die Älteren – ab
14 gehört man hier zur Erwachsenenwelt – hocken auf der Erde, palavern,
rauchen. Dann, ohne dass ich einen Gong oder eine laute Aufforderung der
Lehrer gehört hätte, steigen die Jungen nacheinander die Leiter zur
Schule hoch. Der Unterricht beginnt.
Der Unterricht? Es gibt keine Schulbänke,
keine Tafel, keine Schulbücher, keinen Stundenplan – und eigentlich auch
keine Lehrer. Butet erklärt mir, das ihre Organisation den Kindern
Grundtechniken wie Lesen, Rechnen und Schreiben beibringen will. „Ohne
diese Kenntnisse sind sie im Kampf für ihren Wald und ihre
Menschenrechte verloren. Deshalb lässt uns der Stamm unterrichten“, sagt
sie. „Die Orang Rimba wollen nicht von der Dampfwalze der Modernisierung
überrollt werden. Sie wollen keine Bücher, in denen ihren Kindern
Hochhäuser, Autos, schicke Menschen und die Konsumbedürfnisse in den
Städten gezeigt werden. Dies würde nur Landflucht und anschließend
Verelendung in den Slums bedeuten. Es wäre das Ende der
Orang-Rimba-Kultur.“
Aufgrund dieser Ängste lehnen andere
Stämme der Orang Rimba die Dschungelschule bislang ab. Schule wird als
Einfallstor der städtischen Zivilisation gesehen. Im Wald ist der Wald
die Schule. Andererseits verlassen mehr und mehr Orang Rimba den Wald,
um auf den Markt zu gehen, Produkte des Waldes zu verkaufen und
Industrieprodukte einzuhandeln. Wollen sie in dieser neuen, fremden Welt
nicht ausgenutzt und unterdrückt werden, müssen sie wichtige Techniken
wie Lesen und Rechnen erlernen.
Um die drei Lehrer der Sokola Rimba
scharen sich mittlerweile Kleingruppen von jeweils vier bis sechs
Jungen, alle um die zehn, zwölf Jahre alt. Alle hocken oder liegen auf
dem Boden. Die einen schreiben Buchstaben, die anderen malen oder
rechnen. Alle sind engagiert dabei. Ich habe überhaupt noch nie eine
Schule besucht, in welcher die Kinder so entspannt, eifrig, sorgfältig
lernen und mitmachen wie hier im Urwald. Vielleicht ist es das völlige
Fehlen von Zwang und Notendruck? Pemobar, der Stammeschef, erklärt mir
später, dass seine Gruppe dem Schulexperiment überhaupt nur zugestimmt
hat, weil Sokola bereit ist, die Adat, die Traditionen der Orang Rimba,
zu respektieren und keinerlei Zwang auszuüben. „Das wollen wir nicht.
Wir sind freie Menschen“, sagt Pemobar. Und stellt kategorisch fest:
„Wenn die Lehrer Druck machen, werfen wir sie wieder aus dem Wald raus.“
Eines möchte ich allerdings von ihm
genauer wissen: Warum gehen nur Jungen zur Schule – und die Mädchen
nicht? Eine Beobachtung, die mich durchaus verblüfft. Pemobar erklärt
mir, dass bei den Orang Rimba der Mann für Außenbeziehungen und alles
Neue zuständig ist. Er ist verpflichtet, die Frauen zu schützen und vor
möglicherweise schlechten Einflüssen zu bewahren. „Bevor wir etwas Neues
in unsere Gemeinschaft integrieren, testen wir es. Das gilt für
Motorräder ebenso wie für Süßigkeiten, Alkohol oder die Schule“, erklärt
das Stammesoberhaupt. „Erst wenn wir überzeugt sind, dass das Neue gut
ist, kommt es auch unseren Töchtern und Frauen zugute.“ Diese Tradition
wird vom terre-des-hommes-Projektpartner Sokola und den Lehrern der
Dschungelschule akzeptiert.
Die Lehrer der Sokola Rimba sind zwei
Studentinnen und ein Student der Universität von Djakarta. Auf das
Projekt aufmerksam geworden sind sie über die Internetseite von Sokola
und Aushänge in der Uni. Für sie ist es eine Art Praktikum oder soziales
Jahr. Drei Wochen unterrichten sie, dann gehen sie eine Woche – „um mal
wieder zu duschen und zu gucken, ob die Welt noch existiert“ – in die
nächste Stadt und kommen wieder für den nächsten Turnus.
Butet möchte für die Dschungelschule keine
ausgebildeten Lehrer, denn es geht darum, den Kindern das Lesen,
Schreiben und Rechnen beizubringen – nicht darum, sie umzuerziehen.
„Ausgebildete Lehrer sind oft wie Missionare. Sie verachten die
Tradition und predigen den Fortschritt. So, wie man es ihnen auf der
Universität beibringt“, legt Butet dar. Nach Auskunft von Indit, die vor
drei Jahren als Studentin hierhin kam und blieb, lernen die Jungen der
Dschungelschule doppelt so schnell wie in den öffentlichen Schulen. In
der Regel sind drei Jahre ausreichend. Die Lernbegierde ist groß, da der
Unterricht sehr lebenspraktisch, zielgruppenorientiert und absolut
freiwillig ist. Wenn abends um acht die Öllampe ausgemacht wird, lösen
die letzten Schüler immer noch Aufgaben im Heft. Wenn sie morgens um
sechs vom Gruß der Gibbons geweckt werden und aus ihren kleinen
Schlafsäcken kriechen, gilt der erste Blick wieder dem Heft. Sie sind
stolz, sie haben Spaß – und das Lernen bringt ihnen etwas: Im Gespräch
mit dem 19-jährigen Lahman, der vor fünf Jahren zur ersten Lerngruppe
gehörte, erfahre ich, dass er im vergangenen Jahr seine Leute anführte,
als sie gegen den Bau einer Straße durch ihren Wald protestierten. „Ich
war der Einzige, der ihre Sprache konnte, und ich hatte keine Angst mehr
vor den Malaien“, erklärt er mir. Lahman und die Seinen hatten Erfolg.
Das Gesetz war auf ihrer Seite, der Gouverneur nicht korrupt, und so
mussten die Bauarbeiten abgebrochen werden. Ohne die Dschungelschule
wäre diese Geschichte wahrscheinlich anders ausgegangen.
Der Abschied nach zwei Tagen ist trotz der
großen kulturellen Unterschiede und Sprachprobleme herzlicher als mit
manchem Landsmann. Die Abwesenheit moderner Standards wie Elektrizität,
fließendem Wasser, Medien oder schnellen Verbindungen stößt uns
unweigerlich wieder auf das Wesentliche: die Gemeinschaft, das Gespräch,
das Teilen. Die gewohnte Alltagshektik verschwindet. Körper und Geist
schalten vom vierten in den ersten Gang. Obwohl es eigentlich ja nicht
sein kann, hatte ich die ganze Zeit das Gefühl: Hier organisiert sich
alles von alleine.
Das erleichtert ungemein. Und lässt den
Blick auf das Menschliche zu.
Zum Autor:
Albert Recknagel ist Referent Bildung bei
terre des hommes -Hilfe für Kinder in Not. Spenden sind dringend nötig,
auch für aktuelle Notlagen. Näheres unter WorldWideWeb. tdh.de
Bis zum Frühling des vergangenen Jahres
war die Welt der zwölfjährigen Sandrol Thonden noch in Ordnung. Mit
ihren zwei Geschwistern, der achtjährigen Pema und dem fünfjährigen
Jigme, führte sie das Leben der Halbnomaden im Osten Tibets. Sie mochte
dieses Leben, auch wenn es für Kinder außerhalb Tibets hart erscheinen
mag. Sobald der Schnee im Frühling geschmolzen war, zog die Familie mit
ihren Hochlandrindern, den Yaks und Dris, auf die Weideplätze, die
oberhalb der Baumgrenze liegen. Die Tiere boten ihnen alles, was sie zum
Leben brauchten, Milch, Butter, Käse sowie Felle, die sie zu Kleidung,
Schuhen und Zelten verarbeiteten. Sogar der Dung wurde verwertet. Das
war Sandrols und Pemas Aufgabe, auf die sie ziemlich stolz waren. Sie
mussten den Dung aufsammeln, zu Fladen formen und zum Trocken auslegen.
Das ergibt gutes Brennmaterial, denn Holz ist rar und teuer. Auch beim
Melken durfte Sandrol ihrer Mutter schon helfen. So wuchs sie immer mehr
in die Aufgaben des Nomadenlebens hinein. In guten Zeiten
erwirtschaftete die Familie auch Überschüsse. Die tauschte sie gegen
Tsampa, das geröstete Gerstenmehl und andere Produkte ein, die sie nicht
selbst herstellen konnte. Bisweilen schlugen die Thondens auch mit
anderen Familien ein gemeinsames Lager auf.
Im Herbst endete die Zeit auf der
Hochebene. Nach den großen Schauern des Monsuns wurde es Zeit, in die
Täler hinabzusteigen. Im Osten Tibets sorgt der Monsun für heftige
Niederschläge, während die Gipfel des Himalaya die Regenwolken von
Zentraltibet fernhalten. Auf den Monsun folgt bald der Winter. Die
Temperaturen fallen auf Minus 40 Grad, der Schnee liegt meterhoch und
Stürme verwandeln das Land in eine Eiswüste. Selbst zähe Nomaden können
unter solchen Bedingungen nicht leben.
Sandrol mochte die Zeit in den Dörfern
nicht besonders. Eigentlich sollte sie die Schule besuchen, doch daran
hatte sie kein Interesse. Ihre Eltern drängten sie auch nicht, denn dort
wurde nur chinesisch unterrichtet. Diese Sprache konnten und wollten sie
nicht sprechen. Häufig reichten ihre Vorräte nicht, und so musste sich
der Vater nach bezahlter Arbeit umschauen. Das war nicht immer einfach.
Fand er keine Arbeit, war er gereizt und schlecht gelaunt. Dann gingen
ihm die Kinder besser aus dem Weg. Die gesamte Familie vermisste das
freie Leben auf der Hochebene. Wie sehr sehnten sie sich jedes Jahr nach
dem Frühling, wenn sie wieder zum Nomadendasein zurückkehren konnten.
In diesem Jahr jedoch kam alles ganz
anders. Kurz bevor sie sich mit ihren Tieren auf den Weg machen wollten,
erkrankte der Vater schwer und starb innerhalb kurzer Zeit. Noch vor
seinem Tod erkrankte auch die Mutter und verstarb eine Woche später.
Damit hatten Sandrol, Pema und Jigme alles verloren.
Ihr Schicksal ist extrem, doch nicht
einmal selten. Seitdem China über Tibet herrscht, wurde die alte
Nomadengemeinschaft zerstört. Sie hat Waisenkindern eine Zuflucht
geboten, denn es war selbstverständlich, dass sich andere ihrer
annahmen. Zudem ist die medizinische Versorgung heute so schlecht, dass
schon geringfügige Erkrankungen zum Tode führen können. Die Plätze in
einem der wenigen Krankenhäuser sind zumeist chinesischen Beamten und
Soldaten vorbehalten.
Es gibt jedoch Tibeter im Exil, die sich
mit den Missständen nicht abfinden. Etwa 120.000 Menschen sind im Laufe
der Zeit vor der chinesischen Armee geflohen. Manche haben es in ihrer
neuen Heimat zu Wohlstand und Ansehen gebracht. Sie sehen dies als
Verpflichtung, die Daheimgebliebenen zu unterstützen.
Einer der engagierten Tibeter im Exil ist
Dr. med. Palden Tawo. Er lebt in Deutschland. Berichte aus seiner
Heimatprovinz Tawo in Ost-Tibet haben ihn aufgerüttelt: "Die tibetische
Kultur und Lebensweise ist in unsere Heimat immer mehr gefährdet. Wenn
wir noch etwas retten wollen, müssen wir dort helfen", so seine
Überzeugung.
So rief er Ende 1995 das Tadra-Projekt ins
Leben. Es wird von einem Förderverein in Deutschland unterstützt. In
Schimda, einem günstig gelegenen Ort zwischen Tawo und Drango hat der
Förderverein Tadra ein Grundstück erworben, auf dem ein Waisenhaus, eine
Schule und ein Krankenhaus errichtet werden. Die Bevölkerung hat die
Idee begeistert aufgenommen, wie Palden Tawo berichtet: "Sowohl die
Menschen wie auch die örtlichen Behörden waren sofort bereit uns zu
unterstützen, als sie von den Plänen hörten. Sie haben uns das
Grundstück zur Verfügung gestellt, liefern unentgeltlich Strom, Wasser
und Holz und helfen beim Aufbau. Auf eine solche Perspektive haben sie
lange gewartet".
Als der Arzt vom Schicksal der drei
Thonden-Kinder erfuhr, hat er auch ihnen sofort einen Platz in dem
Waisenhaus zur Verfügung gestellt. Das ersetzt zwar nicht die Familien
und das Nomadendasein, gibt ihnen jedoch eine Zukunft nach dem schweren
Schicksalsschlag.
Von der Universität zur Dorfschule
Ähnliche Projekte gibt es auch in anderen
Teilen Tibets, etwa in Namling. Das abgelegene Gebiet nördlich der Stadt
Shigatse im Westen ist für chinesische Siedler sehr unattraktiv. Es ist
das Armenhaus der Region. Die meisten der etwa 50.000 Menschen leben von
der kargen Landwirtschaft, doch gibt es auch noch einige Halbnomanden.
Die Häuser mit den offenen Fenstern wirken bescheiden. Elektrizität gibt
es nur an einigen günstig gelegenen Orten. Die Kinder dagegen strahlen
bei aller Armut eine Fröhlichkeit und Herzlichkeit aus, die von innen
kommt und echt ist. Die Beziehungen zwischen den Menschen sind intakter
als anderswo, denn China ist weiter entfernt. Dadurch hat sich im Alltag
nicht so viel verändert. Fast alle Kinder haben noch eine Familie.
Allerdings fehlt das Geld für die Schulausbildung. Damit haben sie im
neuen Tibet kaum eine Chance.
Namling ist auch die Heimat von Tashi
Tsering, einem der wenigen Tibeter, der ein Studium abschließen konnte.
Schon seit Jahrzehnten ist er ein Wanderer zwischen den Welten der
Exilgemeinden und der Daheimgebliebenen. Er studierte an der Universität
in Washington sowie am Institut für tibetische Nationalitäten in
Xianyang, China. Ende der achtziger Jahre begann Tashi Tsering sein
ehrgeizigstes Projekt: er nahm sich vor, die Ausbildungssituation in
seiner Heimatregion zu verbessern. Persönlichen Erfahrungen haben ihn
dazu veranlasst: "Wenn man nichts in der Hand hat, meint man nichts tun
zu können. Ich habe inzwischen durch meine Lehrtätigkeit etwas Geld
gemacht, mit dem ich mir gut ein Haus kaufen könnte, wie andere Leute
auch. Ich habe jedoch selbst lange nach Bildung gesucht, und da ich
jetzt zu den Priviligierteren gehöre, sollen die Kinder meiner
Heimatprovinz etwas davon haben", so der agile Sechzigjährige.
Vier Jahre lang musste er mit den Behörden
verhandeln, dann erhielt er 1991 endlich die Erlaubnis, unabhängige
Grundschulen aufzubauen. Inzwischen gibt es in Namling 46 solcher
Schulen mit jeweils etwa hundert Schülern. Unterstützt wird er von einem
Förderverein in Bonn, der über das Projekt informiert und Spenden
sammelt. Die Kosten für die Schulen werden zur Hälfte durch Zuwendungen
aus dem Ausland gedeckt. Ein Viertel trägt die Dorfgemeinschaft durch
Arbeits- und Sachleistungen bei; für den Rest kommt der Staat auf. Auf
dem Stundenplan der Schüler steht nicht nur Sprach- und Sachunterricht.
Auch Fächer wie Hygiene und Abfallbeseitigung werden den Kindern nahe
gebracht. Diese Kenntnisse können sie jetzt schon in ihrem Alltag
anwenden und manchmal sogar an ihre Eltern weitergeben. Natürlich ist
Tashi Tsering auf das Wohlwollen der Behörden angewiesen. In den Schulen
wird die tibetische Geschichte aus der Sicht der Chinesen dargestellt
und Kritik an den gegenwärtigen Zuständen ist schon gar nicht denkbar.
Aber damit kann sich der engagierte Gelehrte abfinden.
Perspektiven
Selbst in der Umgebung der Hauptstadt
Lhasa, dort, wo die meisten Chinesen angesiedelt sind, haben sich die
Tibeter nicht aufgegeben. In Töling, einem kleinen Dorf auf dem Weg, der
von der Hauptstadt zum Flughafen führt, steht das älteste private
Waisenhaus des Landes. Tendol Gyalzur hat es errichtet, eine Tibeterin,
die in der Schweiz lebt. Sie stammt aus Shigatse und verlor 1959 auf der
Flucht nach Indien selbst ihre Eltern. Das Leben einer Waisen hat sie
deshalb sehr geprägt. 1991 besuchte sie zum ersten Mal wieder das Land
ihrer Herkunft. Dort berührte sie vor allem die Situation der
Straßenkinder, die es überall dort gibt, wo die familiären Bindungen
nicht mehr intakt sind. Ohne zu wissen, wohin sie gehören, schlagen sich
die Kinder mit Betteln, gelegentlicher Arbeit oder Stehlen durch. Gerade
die Kinder stehen jedoch für die Zukunft des Landes, und so entschloss
sich Tendol Gyalzur nicht tatenlos zuzusehen. Sie nahm sich vor, ein
Waisenhaus zu gründen. Außer dem festen Willen hatte sie nicht viel,
worauf sie dabei zurückgreifen konnte. Doch
mit unerschütterlichem Optimismus und der
nötigen Beharrlichkeit setzte sie ihren Plan durch. Die nötigen Gelder
besorgte sie sich im Ausland; die chinesischen Behörden gaben
schließlich die Erlaubnis. 1993 wurde das Waisenhaus mit zunächst
sieben Kindern eingeweiht. Seitdem ist es kräftig gewachsen. Inzwischen
sind zwei Gebäude fertig gestellt und aus sieben Kindern sind 24
geworden.
Die Kinder im Waisenhaus Tendol Gyalzur
haben nicht nur genug zu essen und ein sauberes Bett, sie haben auch
eine Zukunft. Der Schulbesuch zählt zu den festen Einrichtungen im
Waisenhaus, und am Nachmittag helfen die Heimeltern den Kleinen bei den
Hausaufgaben. Ebenso wie Tashi Tsering muss auch Tendol Gyalzur manchen
Kompromiss eingehen. So fehlt das Bild des Dalai Lama auf dem Hausaltar,
denn das tibetische Oberhaupt darf in seiner Heimat nicht gezeigt
werden. Dennoch bekennt sie voller Überzeugung: "Mein Verstand sagt mir,
dass die Zukunft meiner Heimat, meiner Familie und unseres Projektes
nicht hoffnungslos aussieht. Hoffnungslosigkeit ist, so glaube ich,
wahrhaftig eine tödliche Eigenschaft, die den Menschen anfallen kann".
So viel Idealismus stieß bei anderen
Exiltibetern zunächst nicht auf große Zustimmung. Sie sei unpolitisch
und gehe zu viele Kompromisse mit den chinesischen Besatzern ein, musste
sie sich manchmal anhören. Ziel des Kampfes sei nicht ein bisschen
Sozialarbeit von Chinas Gnaden für die Kinder, sondern die
Unabhängigkeit des Landes.
Eine derartige Haltung mag zwar moralisch
vertretbar sein; sie geht aber an der Wirklichkeit des Landes vorbei.
Wenn die Entwicklung nicht gestoppt werden kann, wird den Tibetern das
Schicksal der Indianer Amerikas oder der australischen Ureinwohner nicht
erspart bleiben. In kleinen Reservaten werden sie ihrer Kultur nachgehen
dürfen, weil das Devisen von neugierigen Touristen bringt, die vom alten
Tibet träumen. Darüber hinaus wird sich das Land kaum mehr von einer
chinesischen Provinz unterscheiden. Diese Einsicht hat sich inzwischen
auch unter den Tibetern im Exil durchgesetzt. Kaum jemand kritisiert
noch die selbstverwalteten Projekte. Sie wissen, dass solche Initiativen
einen wichtigen Beitrag leisten, das tibetische Erbe in Tibet zu
bewahren und den Kindern eine Zukunft in ihrer eigenen Kultur zu
ermöglichen.
Zum Autor:
Klemens Ludwig ist Tibet-Experte. Er hat
zahlreiche Bücher zum Thema geschrieben (u.a.
"Tibet. Eine Länderkunde", Beck Verlag,
München 4. Aufl. 2006). 2008 erscheint "Dalai Lama, Botschafter des
Mitgefühls. Eine Biographie." Mit einem Vorwort des Dalai Lama, Beck
Verlag,)
und
hält Vorträge zu Tibet. Termine dafür und nähere Informationen finden
Sie unter www.tibet-ludwig.de
Teil I:
Kinder der
Straßenbücherei schreiben ihr eigenes Buch
Von Nasrin Siege,
Madagaskar
„Wieviele Bücher haben
Sie geschrieben?“ - „Wie lange schreiben Sie an einem Buch?“ – „Was
bringt Sie auf das Thema von einem Buch?“ … Solche und andere ähnliche
Fragen kennt wohl jeder Autor, der vor einer Gruppe von Kindern aus
seinen Büchern gelesen hat. Auch mir wurden sie oft gestellt, aber eher
in den Klassenzimmern in Deutschland, Schweiz und Österreich, den
Ländern, in denen ich aus meinen Büchern gelesen habe.
Diesmal – es ist April
2005 – werde ich von ca. zwanzig madagassischen Jungen und Mädchen
befragt. Wir sitzen in der erst seit kurzem gebauten Straßenbücherei,
die sich mitten in einem der ärmsten Wohnviertel Antananarivos befindet.
Der Weg zur Bücherei hatte mich an ärmlichen Hütten vorbeigeführt, die
sich links und rechts an einen kleinen schmutzig-grünen Kanal befanden,
in dem sich der Unrat und das Abwasser sammelt. Hier, inmitten von Staub
und Abfällen, spielten kleine Kinder, nicht weit von einem Müllberg, in
dem eine junge Frau mit einem Baby nach etwas Nützlichem wühlte.
Immer noch mit den
eben gesehenen Bildern der großen Armut vor Augen, saß ich nun in dieser
kleinen Straßenbücherei, schaute auf die halbvollen Regale und ließ mir
von den stolzen Jugendlichen erzählen, wie sie mit Hand angefaßt hatten
am Bau ihrer Bücherei.
Und dann kamen ihre
Fragen an mich, die Autorin aus Deutschland. Immer wieder schnellten
ihre Hände in die Höhe. Nachdem ich von mir erzählt hatte, auch wie und
warum ich angefangen hatte zu schreiben, erfuhr ich, dass eine Reihe der
Jungen und Mädchen auch schrieb. Ein Junge holte sein Heft und zeigte
mir die ersten 25 Seiten seines Theaterstücks und ein Mädchen fragte,
wann ich denn wiederkommen würde, denn sie hätte auch eine Geschichte
geschrieben … Und irgendwann war die Idee vom eigenen Buch da, das sie
alle mit ihren Geschichten füllen könnten. Dass ich wiederkommen würde,
war danach keine Frage mehr.
Während der folgenden
Werkstattgespräche haben sie ihr Thema eingegrenzt: Die Jungen und
Mädchen schreiben Geschichten und Gedichte über ihr Leben in ihrem
Stadtviertel. Da es in Madagaskar wenige Bücher auf Malgach, der lokalen
Sprache gibt, soll ihr Buch auf Malgach und Französisch erscheinen. Es
wird illustriert und wenn genügend Mittel vorhanden sind, soll es in
einer größeren Auflage in Madagaskar gedruckt werden. Mit dem daraus
erzielten Einkommen wollen die Jugendlichen u.a. Bücher für ihre
Straßenbücherei kaufen. Die ersten Geschichten sind bereits fertig und
werden derzeit von einer Studentin ins Französische übersetzt.
Inzwischen - es ist April 2007 - haben die Jugendlichen sich
dafür entschieden, dass es auf Malagasy und in deutscher Sprache
erscheinen soll. Eine Jugendliche hat alle Geschichten illustriert.
Das Buch mit dem deutschen Titel „Tage unseres Lebens“ wird mit
Spenden von „Hilfe für Afrika e.V.“ finanziert.
Kinder der Straßenbücherei schreiben
ihr eigenes Buch
Das
Buch der Jugendlichen aus dem
Armenviertel ist seit dem 1. Juni
2007 auf dem madagassischen
Buchmarkt!
„Wieviele
Bücher haben Sie geschrieben?“ - „Wie lange schreiben Sie an einem
Buch?“ – „Was bringt Sie auf das Thema von einem Buch?“ … Solche und
andere ähnliche Fragen kennt wohl jeder Autor, der vor einer Gruppe von
Kindern aus seinen Büchern gelesen hat. Auch mir wurden sie oft
gestellt, aber eher in den Klassenzimmern in Deutschland, Schweiz und
Österreich, den Ländern, in denen ich aus meinen Büchern gelesen habe.
Diesmal – im Juni 2005 – wurde ich von ca.
zwanzig madagassischen Jungen und Mädchen befragt. Wir saßen in der
damals seit kurzem gebauten Bibliothek „Fanovozantsoa Joseph Wresinski“,
die sich in Antohomadinika, einem der ärmsten Wohnviertel Antananarivos,
befindet. Der Weg zur Bücherei hatte mich an ärmliche Hütten
vorbeigeführt, die sich links und rechts an einen kleinen
schmutzig-grünen Kanal befanden, in dem sich der Unrat und das Abwasser
sammelt. Hier, inmitten von Staub und Abfällen, spielten kleine Kinder,
nicht weit von einem Müllberg, in dem eine junge Frau mit einem Baby
nach etwas Nützlichem wühlte.
Immer noch mit den eben gesehenen Bildern
der großen Armut vor Augen, saß ich nun in dieser kleinen Bibliothek,
schaute auf die halbvollen Regale und ließ mir von den stolzen
Jugendlichen erzählen, wie sie mit Hand angefaßt hatten am Bau ihrer
Bücherei. Und dann kamen ihre Fragen an mich, die
Autorin aus Deutschland. Immer wieder schnellten ihre Hände in die Höhe.
Nachdem ich von mir erzählt hatte, auch wie und warum ich angefangen
hatte zu schreiben, erfuhr ich, dass eine Reihe der Jungen und Mädchen
auch schrieb. Ein Junge holte sein Heft und zeigte mir die ersten 25
Seiten seines Theaterstücks und ein Mädchen fragte, wann ich denn
wiederkommen würde, denn sie hätte auch eine Geschichte geschrieben …
Und irgendwann war die Idee vom eigenen Buch da, das sie alle mit ihren
Geschichten füllen könnten. Dass ich wiederkommen würde, war danach
keine Frage mehr. Die Jugendlichen, die an ihrem eigenen
Buch gearbeitet haben, sind in der Jugendbewegung von ATD Vierte Welt /
Madagaskar aktiv (ATD: „Hilfe in aller Not“). Hier in Antananarivo
unterstützen sie u.a. die Straßenbüchereien: Sie besuchen mit den
MitarbeiterInnen vom ATD die Kinder von Antohomadinika auf Straßen und
Plätzen innerhalb des Viertels. Da viele Kinder nicht zur Schule gehen
und keine Bücher kennen, ist das Ziel, sie mit Büchern, Geschichten,
Liedern und dem Malen vertraut zu machen. Einer der ATD-Mitarbeiter ist Lucas
Rodwell, mit dem ich vom Beginn des Buchprojekts mit den Jugendlichen
zusammen gearbeitet habe. Während der folgenden Werkstattgespräche
mit Lucas und mit mir beschlossen die Jugendlichen Geschichten über ihr
Leben in ihrem Stadtviertel zu schreiben. Dabei habe ich viel über ihre
Lebenssituation erfahren und gesehen, dass das Schreiben für sie mit
vielen Schwierigkeiten verbunden ist: Sie alle leben mit ihren Familien
in kleinen notdürftig zusammengezimmerten engen Unterkünften in einem
Armenviertel in Antananarivo. In ihren Wohnungen gibt es keinen Raum, in
den sie sich zurückziehen können, in dem sie Ruhe zum Schreiben
bekommen. Hinzu kommen ihre vielen Verpflichtungen – abgesehen von ihrem
Engagement im ATD - , die sie in ihren Familien haben: All die Arbeiten,
wie Wasserholen, Kochen, Saubermachen, Wäschewaschen und auf die
kleineren Geschwister aufpassen, lassen wenig Zeit für die Schule und
zum Schreiben.
Und trotzdem haben sie weiter an ihrem
Buch gearbeitet! Da es in Madagaskar wenige Bücher auf
Malagasy, der lokalen Sprache gibt, sollte ihr Buch ursprünglich auf
Malagasy und Französich erscheinen. Es sollte von einem der Mädchen
illustriert werden und in Madagaskar gedruckt werden. Mit dem daraus
erzielten Einkommen wollten die Jugendlichen u.a. Bücher und Material
für ihre Bibliothek und die Straßenbücherei kaufen. Im November 2006 machten wir einen Ausflug
in den Regenwald bei Andasibe. Die Jugendlichen lasen sich gegenseitig
ihre fertigen Geschichten vor, diskutierten erneut die Frage der zweiten
Sprachen des Buches und beschlossen kurz danach, dass ihr Buch in
Malagasy und Deutsch erscheinen sollte. Das war imGrunde der zweite entscheidende
Schritt, denn von nun an konnte ich – die Autorin aus Deutschland - die
deutschen Übersetzungen besser überarbeiten.
Der deutsche Titel ist: „Madagaskar – Tage unseres Lebens“. Sieben Jugendliche– Celine, Lucy, Naina,
Brigitte, Ravaka, Naval und Jocelyn aus Antananarivo erzählen
Geschichten aus ihrem Leben und Ruffin aus Tulear hat einen Artikel über
die Beerdigungszeremonien der Vezo (der Etnie, der er angehört)
geschrieben. Die Jugendliche Prisca Rakotomanga hat die
Erzählungen illustriert. Am 1. Juni 2007 ist das Buch bei der
Imprimerie Lutherienne in Madagaskar in Malagasy und Deutsch
erschienen!!!
Gerade rechtzeitig, denn unsere Termine
für die Präsentationen des Buches in der Bibliothek in Antohomadinika am
2. Juni 2007 und im Goethe Zentrum am
6. Juni standen schon fest.
Das waren große Tage für die jungen
AutorInnen und Prisca! Endlich war der Traum vom eigenen Buch kein Traum
mehr,sondern Realität! Beide Veranstaltungen waren sehr schön,
mit vielen Gästen und aufgrund der unterschiedlichen Lokalitäten auch
sehr unterschiedlich. In Antohomadinika waren viele Nachbarn, Freunde
und Mitglieder anderer Hilfsprojekte gekommen. Im Goethe-Zentrum trafen
wir Besucher aus der internationalen Gemeinde, Madagassen, die in irgend
einer Weise mit Deutschland und der deutschen Sprache verbunden waren
und Mitgliedern anderer Hilfsprojekte.
Besonders geehrt fühlten wir uns alle
durch den Besuch des deutschen Botschafters, Dr. Wolfgang Moser, im
Goethe-Zentrum (6.6.2007). Der Ablauf beider Veranstaltungen war
ähnlich: Wir hatten eine kleine Pantomime vorbereitet, mit der wir
unsere Sitzungen in dem kleinen Arbeitsraum vor gespielt haben. Danach
haben die jungen Leute sich vorgestellt und aus ihren Texten vor gelesen
und ich habe Teile aus den deutschen Übersetzungen vor getragen.
Zur Untermalung hatten wir Priscas Illustrationen aus gestellt. Am 25. November 2007 werde ich im Rahmen
einer Ausstellung (mit den ersten handgeschriebenen Texten, ersten
Übersetzungen in Französich und dann in Deutsch, Überarbeitungsprozess,
Fotos, Illustrationen etc.) in der PH Heidelberg vom Entstehen des
Buches der Jugendlichen erzählen. Sie sind alle herzlich dazu eingeladen!
Das Buchprojekt wurde mit Hilfe von
Spenden von Hilfe für Afrika e.V. finanziert. Da das Buch in Madagaskar erschienen ist,
können Sie es nicht im deutschen Buchhandel bekommen. Die erste Auflage von 600 Exemplaren ist
in Madagaskar bereits vergriffen und die zweite Auflage ist anvisiert.
Eine begrenzte Anzahl Bücher kann ab Juli
2007 von Hilfe für Afrika gekauft werden. Kontakt
über WorldWideWeb. hilfefuerafrika.de
Der Erlös vom Verkauf wird für ATD Madagaskar und andere Projekte
verwendet werden.
Zur
Autorin:
Nasrin Siege ist eine bekannte
deutsch-iranische Kinderbuchautorin. Ihre Bücher erscheinen im Beltz
Verlag und im Verlag Brandes& Appel.
Lesen Sie in "Leserfragen" die Empfehlung
von Sieges Serengeti-Buch sowie in der Rubrik "Das Eine Buch" die
Rezension, die Nasrin Siege zu Navid Kermanis "Ayda, Bär und Hase"
verfasst hat.
»Ich
habe keine Träume mehr!«, sagt Adrian und wickelt sich frierend in
seinen roten Mantel. Ein Vierzehnjähriger, dem das Leben die Träume
gestohlen hat. Sein Foto und seine Worte flatterten mir an einem Tag im
März 2005 zusammen mit der Anfrage des Verlages auf den Schreibtisch, ob
ich nicht eine Geschichte über die Straßenkinder von Bukarest schreiben
wolle. Ich wollte schon, doch ich schrieb gerade an einer anderen
Geschichte. Aber das Bild vom »Prinzen mit dem roten Mantel«, wie Adrian
von seinen Freunden genannt wird, ließ mir keine Ruhe und so machte ich
mich im Sommer 2005 mit meinem Sohn auf den Weg nach Bukarest, um das
Leben der Kinder und Jugendlichen am Bahnhof vor Ort zu studieren.
Eine
Woche lang lebten wir mit ihnen auf der Sozialstation St. Lazarus, wir
schliefen Tür an Tür mit ihnen, nahmen an ihren Mahlzeiten teil und
verbrachten die Abende mit ihnen. Gemeinsam mit den Sozialarbeitern
besuchten wir die Kinder am Bahnhof, in den unterirdischen
Kanalwohnungen, und auch die Kinder, die den ersten Schritt von der
Straße weg in die Kinderhäuser geschafft haben. Einen Monat später kam
ich mit meinem zweiten Sohn nach Bukarest zurück, um am Sommerfest der
Concordia-Familie auf der Farm teilzunehmen.
Entsetzen, Mitleid, Hilflosigkeit, aber
auch Freude, Lachen und Hoffnung und jede Menge Träume. Die Erfahrungen
mit den Kindern und Jugendlichen vom Bahnhof sind vergleichbar mit einer
Achterbahnfahrt, in der unsere widersprüchlichen Gefühle und Gedanken
durcheinander gewirbelt werden.
Nur eins wussten wir nach unserer Rückkehr
ganz genau: Die Tage in Bukarest haben uns verändert. Dinge, die für uns
vorher selbstverständlich waren, haben plötzlich den Charakter des
Besonderen angenommen, eines Privilegs, für das wir dankbar sind, oder
wie mein Sohn es ausdrückte: »Wir können nie mehr einfach da
weitermachen, wo wir vorher waren. Es ist alles durcheinander geraten.«
Zur
Autorin:
Carolin Philipps hat das Buch
"Träume wohnen überall" über
Straßenkinder in Rumänien
geschrieben. Der Text ist das
Nachwort aus dem Buch. Es ist im
Ueberreuter Verlag erschienen (ISBN
3-8000-5210-5)